Sowjetische Agenturen und ein kritischer Brief

Sieben Tage, sieben Nächte: Über die Berichterstattung des »Neues Deutschland« zum Prager Frühling

Am 21. August 1968 erschien »Neues Deutschland« mit einer ungewöhnlichen Titelseite: Optisch an erster Stelle eine Mitteilung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS - unter der Überschrift »Mitteilung von TASS«. Darunter im Wortlaut eine Erklärung »An alle Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik!«, unterzeichnet vom SED-Zentralkomitee, vom Staatsrat und vom Ministerrat. Die Zeitung war zumindest auf der Titelseite noch deutlicher als an manchen anderen Tagen mehr amtliches Mitteilungsblatt als journalistisches Produkt.

Anlass war der massive Einmarsch von Truppen des Warschauer Vertrages in die ČSSR in der Nacht zuvor. Oder, wie es in der TASS-Mitteilung hieß: Sowjetische Einheiten und Einheiten aus verbündeten Ländern hätten »das Territorium der Tschechoslowakei betreten«. Das ist eine nette Umschreibung dafür, dass Spezialtruppen erst einen Prager Flugplatz, dann Regierungsgebäude und Rundfunkstationen kaperten, einen Teil der Prager Staats- und Parteiführung festnahmen und die Genossen in die Einöde einer entlegenen Bergregion der Ukraine verfrachteten.

Das war das Ende des Prager Frühlings, des Versuchs, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz aufzubauen. Das nachstalinistische politische System sollte demokratisiert, das wirtschaftliche System soweit liberalisiert werden, dass es leistungsfähiger werden würde. Der Versuch war mit Hoffnungen von Linken in Ost und West verbunden; natürlich wurde er vom Westen auch benutzt, um Veränderungen in seinem Sinne zu forcieren, zu erzwingen. Eine schwierige, auch eine gefährliche Situation, zweifellos.

Moskau und seine Getreuen wählten die martialischste aller Lösungsmöglichkeiten, was auch ein Hinweis an etwaige Zweifler und Erneuerer in anderen sogenannten Bruderstaaten war. Diese widersprüchliche Gemengelage fand sich in der Berichterstattung des »Neuen Deutschland« freilich nicht. In seinem Sprachgebrauch waren Kritiker Antisozialisten und Konterrevolutionäre, die eine heimtückische Kampagne führten. Kritische Stimmen, etwa ein Brief des tschechischen Schriftstellers Ota Filip an »ND«, bekamen keinen Raum. Wir veröffentlichen diesen Brief, den wir kürzlich im nd-Archiv entdeckten, in dieser Ausgabe erstmals.

Zu den Episoden jener Augusttage gehört die überlieferte Drohung des Moskauer Verteidigungsminister Gretschko an seinen Prager Amtskollegen Dzur, ihn eigenhändig am nächsten Baum aufzuhängen, sollten sich die Tschechen der Sowjetarmee entgegenstellen. Ein paar Monate später, im April 1969, gab es im »ND« eine Nachricht über ein Treffen der beiden Minister, das »in einer freundschaftlichen Atmosphäre« verlaufen sei. Man kann sich das lebhaft vorstellen.

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