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Nicht schämen, leben!

Mit Heinrich Popow beendet ein großer Para-Leichtathlet seine Karriere – er kämpft weiter

Ronny Ziesmer stöhnt. Dass es anstrengend werden würde über die 100 Meter, wusste er vorher. Und dass er im Sprint bei den Para-Leichtathletik-EM in seinem Rollstuhl den Besten nur hinterherfahren würde, war ihm auch klar. Nach 34 Sekunden kam er am Dienstagabend ins Ziel, als Letzter von fünf Finalstartern - fast 12 Sekunden hinter dem Sieger und Weltrekordinhaber Peter Genyn aus Belgien.

Was den 39-Jährigen aber im Moment vor sichtbare Schwierigkeiten stellt, ist eine Rampe. Ziesmer wollte aus dem Stadiontunnel einfach geradeaus rollen. Aber er muss zu den Interviews in die Mixedzone. Das bedeutet: eine scharfe Linkskurve, die Rampe hoch und dabei gleich wieder in eine scharfe Rechtskurve, alles auf engstem Raum. Mit einem langen Rennrollstuhl und eingeschränkter Armkraft ist das nicht leicht. »Das ist doch alles nur provisorisch hier«, schimpft ein Volunteer. Die freiwillige Helferin ist gerne hier im Berliner Friedrich-Ludwig-Jahnsportpark. Bei den Europameisterschaften der Nichtbehinderten im Olympiastadion hat sie auch schon mitgeholfen. Beim Vergleich schüttelt sie nur den Kopf: »Da sieht man, wo das Geld hingeht.«

Wenige Meter neben Ziesmer steht Heinrich Popow. Er ist der Star des Abends. Mit einer Silbermedaille im Weitsprung hat er gerade seine 18-jährige Karriere beendet. Natürlich könne er jetzt wieder kritisieren, sagt er: »So, wie ich es immer gemacht habe.« Popow schaut in der Mixedzone nach unten. »Ja, die Matte ist viel zu dünn.« Die Nägel des Spikes an seinem rechten Bein und die der Unterschenkelprothese an seinem anderen drücken durch bis auf den Boden. Aber er lacht und sagt: »Egal, was hier nicht funktioniert, ich will den Finger nicht in die Wunde legen. Die Ansätze sind professionell, wenn es jemand besser kann, soll er es doch machen.«

Ronny Ziesmer und Heinrich Popow sind zwei ganz unterschiedliche Vertreter ihres Sports. Der Cottbuser Ziesmer war ein Spitzenturner, vor den Olympischen Spielen 2004 galt er als Medaillenkandidat an den Ringen. Dann brach er sich bei einem Trainingsunfall die Halswirbelsäule. Aber auch mit seiner Querschnittslähmung wollte er aktiv bleiben. Nach ersten Versuchen als Handbiker stieg er auf den Rennrollstuhl um - und trainiert hart für seinen »Traum von den Paralympics«. Nach seinem ersten Start bei einer Europameisterschaft sagt er: »Der Sport ist Motivation und gibt mir Struktur im Leben.« Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes DBS, sieht ihn »als tolles Beispiel für viele Sportverletzte«.

Für den Leverkusener Popow findet Beucher noch lobendere Worte: »Er ist ein ganz Großer!« Dieser Eindruck bestätigt sich am Dienstag schnell. Niederländer, Briten, Italiener und natürlich auch deutsche Athleten bleiben stehen, Popow nimmt sich für jeden Zeit - Small Talk, Schulterklopfen, Umarmungen. Auch Daniel Wagner kommt noch mal in der Mixedzone vorbei. Der 25-jährige Däne hatte Popow im Wettkampf geschlagen. Jetzt sagt er: »Danke für die Inspiration, die Du mir gegeben hast.«

Im Alter von neun Jahren musste Popow der linke Unterschenkel amputiert werden. 26 Jahre später ist er mit zwei Mal Gold bei den Paralympics und insgesamt 30 internationalen Medaillen zum Vorbild geworden. Trotzdem sagt er: »Vielleicht habe ich gar keinen richtigen Bezug zum Leistungssport.« Und schon übt er wieder Kritik: »Der DBS muss sich die Frage beantworten, ob er Spitzensport will oder für alle da sein will.« Denn Popow hält es für falsch, »die Inklusionsdebatte über einen elitären Leistungssport zu führen.«

Wie schwierig wirkliche Teilhabe ist, wird selbst bei diesen Europameisterschaften deutlich. Die Siegerehrungen finden oberhalb der Ränge auf dem Stadionumlauf statt. Vor der Bühne stehen die Zuschauer, auch Athletinnen und Athleten die stehen können. Die meisten Rollstuhlfahrer bekommen nichts mit.

Heinrich Popow will »keine Gleichmacherei«, er will »Inklusion durch den Sport fördern.« Wie Ronny Ziesmer sieht er den Sport als Hilfe, Motivation und Medizin. Deshalb arbeitet er schon länger mit Nachwuchsathleten und wird es auch weiterhin tun. Einer, der von Popows Engagement profitiert hat, steht am Dienstagabend neben ihm: Felix Streng. Der 23-jährige Leverkusener ist schon jetzt einer der weltweit schnellsten Sprinter. Popow nennt er seinen »Mentor, der mir, auch wenn es wehtat, immer eine ehrliche Antwort gegeben hat.« Popow wiederum lobt Strengs Ehrgeiz und Professionalität. Was ihm ganz wichtig ist, hebt er besonders hervor: »Felix hat sich nie für seine Behinderung geschämt.«

Selbstbewusst und gut gelaunt stehen beide nebeneinander. Bevor sich Felix Streng verabschiedet, sagt er noch: »Ohne Heinrich wären wir mit den Prothesen nicht da, wo wir jetzt sind.« Auch in diesem Bereich will sich Popow weiterhin stark engagieren. Nicht mit der vordergründigen Absicht, die Leistungen der Sportler zu verbessern, sondern um »die Lebensqualität zu verbessern.«

Und noch etwas hat sich Popow für die Zukunft vorgenommen. »Ich würde gern etwas für unseren Sport in einem Verband machen.« Er freut sich darauf, die andere Seite kennenzulernen. Als Aktiver habe er sich ja so oft mit dem DBS angelegt, sagt er und schmunzelt. »Vielleicht denke ich ja dann: Was warst Du als Athlet für ein egoistischer Idiot?« Treu bleiben will er sich trotzdem. Das heißt: »offen und ehrlich meine Meinung sagen.«

Vielleicht hat sich deshalb im Deutschen Behindertensportverband noch niemand außer Präsident Beucher für eine Einbindung Popows stark gemacht? Die beiden verstehen sich jedenfalls gut. Weil sie ähnlich ticken. Auch Friedhelm Beucher kritisiert, wo es angebracht ist. Zuletzt im Olympiastadion. »Der europäische Leichtathletikverband wollte bei der EM in Berlin nichts von uns wissen. Es gab null Kommunikation.« Das hat Heinrich Popow nicht mitbekommen, weil er sich ja noch »als Sportler auf die Para-EM vorbereitet« hat. »Aber wenn das so gewesen ist, dann ...« Ein Kraftausdruck fällt noch, dann muss Popow schon die nächsten Hände schütteln.

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