Die Linke nach Nicaragua

Das repressive Vorgehen der Ortega-Regierung spaltet das progressive Lager

  • Raúl Zibechi
  • Lesedauer: 7 Min.

Das Ende des »realexistierenden Sozialismus« und der Fall der Berliner Mauer haben in Lateinamerika recht deutliche Effekte gehabt, wenn auch beschränkt auf die kommunistischen Parteien und deren Einflussbereiche. Dieser Umstand konnte aber den Aufstieg progressiver Kräfte nicht aufhalten, die zu dieser Zeit die Kommunalverwaltungen großer Städte eroberten, darunter São Paulo (1989), Porto Alegre (1991), Montevideo (1990) und Caracas (1993). Die Übernahme dieser Stadtverwaltungen war die erste Phase eines unaufhaltsamen Wachstums der fortschrittlichen und linken Kräfte, die diese Positionen als politische Plattformen nutzten, um neue Regierungsformen zu erproben. Dazu gehörten vor allem die partizipativen Ansätze, die die brasilianische Arbeiterpartei PT in Porto Alegre praktizierte und die ein breites Echo fanden. Gerade einmal zehn Jahre nach dem Zerfall des »realexistierenden Sozialismus« (1989-1991) begannen die fortschrittlichen Bewegungen, nationale Wahlen zu gewinnen und wurden im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zu hegemonialen Kräften in Lateinamerika.

Die Krise in Nicaragua erwischt die Linke im schlechtesten Moment. Die verschiedenen Reaktionen auf die Vorgänge und auf das Verhalten des Regimes Ortega-Murillo führen zu Spaltungen, wie sie in dieser Schärfe unter den politischen Kräften, die sich selbst als links oder fortschrittlich bezeichnen, nicht üblich waren.

Der Autor
Raúl Zibechi, geb. 1952 in Montevideo, flüchtete nach dem Militärputsch 1973 in Uruguay nach Argentinien und ging nach dem Putsch dort 1976 für zehn Jahre ins europäische Exil. Zibechi ist einer der wichtigsten unabhängigen linken Intellektuellen Südamerikas. Er arbeitet als Journalist und ist Autor zahlreicher Bücher. Sein spezielles Interesse gilt der Erforschung, Begleitung und Unterstützung der sozialen Bewegungen Lateinamerikas.

Zunächst einmal muss man festhalten, wie tief diese Spaltung ist, die Parteien, Politiker und Intellektuelle aus fast allen Ländern betroffen hat. Anfangs (der am 19. April in Nicaragua eskalierenden Krise, d. Red.) sprachen sich die Parteien, die im Forum von São Paolo zusammengeschlossen sind, für die Regierung von Daniel Ortega aus. Beim Forum von São Paolo handelt es sich um den größten Zusammenschluss linker Parteien in der Region. In den folgenden Tagen jedoch stimmten einige dieser Parteien in ihren Nationalparlamenten für entgegengesetzte Positionen. Dies gilt beispielsweise für die Frente Amplio in Uruguay, die einstimmig einen Aufruf unterstützte, welcher die Repression verurteilt. (Seit dem 19. April wurden laut der Menschenrechtsorganisation ANPDH mehr als 400 meist junge Menschen getötet, Tausende verletzt, viele wurden entführt, gefoltert und blieben verschwunden, d. Red.). Das macht deutlich, dass die Entscheidungen des Forums keineswegs die Haltung der gesamten lateinamerikanischen Linken ausdrücken.

Bei den führenden Politikern lässt sich eine vergleichbare Spaltung erkennen. Die Regierungen von Bolivien, Kuba und Venezuela erklärten ihre Unterstützung für Ortega, aber José Mujica (Frente Amplio, Ex-Präsident von Uruguay, 2010-2015, d. Red.) sprach sich nach längerem Schweigen für den Rücktritt der Regierung in Nicaragua aus. »Manche, die gestern noch Revolutionäre waren, haben die Orientierung im Leben verloren«, sagte er, nachdem er ein Ende der Repression gefordert hatte. Auch in Argentinien, Chile und Mexiko ist die Linke tief gespalten. Gleiches gilt für die Intellektuellen, von denen viele auch schweigen. Der brasilianische Theologe Leonardo Boff kritisierte die nicaraguanische Regierung, wohingegen der Argentinier Atilio Borón die Repression verteidigt hat. Die argentinische Zeitung »Pagina12« hüllt sich in Schweigen, während »La Jornada« in Mexiko ihre Ablehnung des Regimes mehrfach betont hat.

Sicherlich werden diese unterschiedlichen Positionen im Hinblick auf Nicaragua nicht zu Stimmenverlusten für die linken Parteien führen, aber sie werden ihre aktiven Mitglieder und die Personen im Umkreis der jeweiligen Führungszirkel betreffen. Während sich die Linke in einer tiefen Legitimitätskrise befindet, ist die fortschreitende Spaltung nicht hilfreich, wenn es darum geht, vor der Gesellschaft ein einheitliches Bild zu präsentieren. Es ist zwar noch zu früh für Schlussfolgerungen, aber es sieht so aus, als käme die schärfste Kritik an der Regierung in Managua von der Basis und den mittleren Kadern der linken Parteien, die Druck auf ihre Führungen ausüben.

Ein weiterer Umstand, den man festhalten muss, ist das Ausmaß, in dem hier Geopolitik und soziale Kämpfe durcheinandergehen. Genau genommen durchdringt diese Vermischung alle politischen Kräfte in der Welt - eine Folge der hegemonischen Verschiebung, die wir gerade erleben. Auf der Rechten dominiert eindeutig ein Diskurs, der den USA zugeneigt ist. Aber man kann und will auch die Verbindungen zum »chinesischen Kommunismus« nicht abreißen lassen, denn China ist ebenso das wichtigste Ziel für Exporte wie Quelle üppiger Investitionen. Die konservative Regierung von Mauricio Macri in Argentinien hat ihre strategische Allianz mit China inzwischen erneuert und vertieft.

Auf der Linken gibt es zwei Argumentationsweisen: Einige führen die Probleme fortschrittlicher oder linker Regierungen auf den Imperialismus zurück, den sie auch hinter dem Aufstand in Nicaragua vermuten. Diese Position scheint in der Minderheit zu sein. Auf der anderen Seite wird die Rolle der USA zwar nicht vernachlässigt, aber man betont auch das Recht der Bevölkerung, sich zu verteidigen, sich zu mobilisieren und dem zu widerstehen, was als das autoritäre Regime Ortega-Murillo bezeichnet wird.

Es liegt auf der Hand, dass wir noch eine ganze Zeit in diese Debatte verstrickt bleiben werden. Manche Argumente führen zu einer Rechtfertigung der Repression, solange die Linke regiert, während sie verurteilt wird, wenn sie von der Rechten ausgeübt wird. Der Tod eines Demonstranten wie Santiago Maldonado (Maldonado setzte sich für die indigenen Mapuche ein, d. Red.) in Argentinien hat energische Proteste der Bewegungen ausgelöst, und das zweifellos zu Recht. Aber viele bleiben angesichts von Hunderten Toten in Nicaragua stumm. Es ist klar, dass hier etwas nicht in Ordnung ist.

Das dritte Problem, das die aktuelle Situation an den Tag bringt, ist die Unfähigkeit, die gegenwärtigen Vorgänge gelassen und ernsthaft zu analysieren. Anklagen und Slogans ersetzen Argumente und Begründungen. Andersdenkende zu kriminalisieren, ist der schnellste Weg, um politisch denkende Menschen politikverdrossen und Politik zur Sache für Experten zu machen. Besonders Jugendliche und Frauen werden davon abgestoßen, da sie am wenigsten geneigt sind, sich von opportunistischen Reden manipulieren zu lassen.

Dem nordamerikanischen Imperialismus werden in Lateinamerika derart viel Hass und Ablehnung entgegengebracht, dass wir häufig dazu neigen, gegenüber der Repression in Ländern wie Russland oder China (in denen ein Teil der Linken die neuen Retter sieht) übermäßig tolerant zu sein.

Das vierte und letzte Problem betrifft unsere Identität, wir haben es also mit einer größeren Herausforderung zu tun. Für die Linke war die Ethik immer von zentraler Bedeutung: Gleichheit, Solidarität, sich von der Vernunft leiten zu lassen und so weiter und so fort. Wenn wir davon ausgehen, dass diese Ethik Markenzeichen unserer Identität ist, dann darf - um ein extremes Beispiel zu nennen - ein linker Aktivist niemals Folter akzeptieren. Aber wenn diese Folter ausgeübt wird, um eine Volksherrschaft zu verteidigen, denken wir dann immer noch so? Diese Debatte reicht sehr tief und hat eine lange Geschichte, seit 1921 der Matrosenaufstand in Kronstadt von der Sowjetmacht in Blut ertränkt wurde, was von der bolschewistischen Führung, von Lenin bis Trotzki, verteidigt wurde.

Es ist klar, dass wir weitgehend übereinstimmen, wenn es darum geht, die Forderungen der Bevölkerung gegen rechte Regierungen zu verteidigen, zum Beispiel in Argentinien in der Diskussion um die Reform des Abtreibungsgesetzes oder in Brasilien generell Forderungen gegen die Regierung Temer. Schwierig wird es, wenn »die Unsrigen« an der Regierung sind oder wenn wir es mit Personen zu tun haben, die fortschrittliche Parolen schwingen, während sie neoliberale Politik machen.

Ich persönlich finde, dass die Dinge in Nicaragua sehr klar liegen. Das Regime Ortega-Murillo hat vom ersten Tag an mit der reaktionären katholischen Kirche und mit der Unternehmerschaft unter einer Decke gesteckt, pflegt gute Beziehungen zu den USA und hat von der Korruption und insbesondere von der Unterstützung seitens der venezolanischen Regierung profitiert, indem es deren Öllieferungen weiterverkaufte. Niemals hat es sich um eine auch nur andeutungsweise linke und fortschrittliche Regierung gehandelt.

Aber das ist jetzt nicht entscheidend. Auch wenn die Regierung echte linke Politik gemacht hätte - könnten wir jetzt angesichts der Repression und der Gewalt Stillschweigen bewahren? Das ist in meinen Augen der Kern der ganzen Angelegenheit. Wo ziehen wir die rote Linie? In meinem Leben als Aktivist ist diese Linie immer an der gleichen Stelle verlaufen, wo sie auch heute noch verläuft: Wir können keine Repression akzeptieren, niemals und unter keinen Umständen.

Aus dem Spanischen von Eleonore von Oertzen

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