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  • Kindersterblichkeit in Somalia

Dr. Lul gibt nicht auf

Somalische Kinderärztin kämpft gegen unnötiges Sterben

  • Bettina Rühl, Mogadischu
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Kinderärztin Lul Mohamud Mohamed wirkt etwas müde, als sie die Treppe in den ersten Stock des Banadir-Krankenhauses in Mogadischu hinaufsteigt. Aber die 56-Jährige ist ausdauernd wie eine Marathonläuferin. Deshalb geht sie einfach weiter, obwohl übervolle Arbeitstage und deprimierende Patientenschicksale an ihr zehren. »Für unterernährte Kinder haben wir im ersten Stock eine eigene Station«, erklärt die Leiterin der Kinderabteilung in dem Krankenhaus in der somalischen Hauptstadt, das auf Mütter und Kinder spezialisiert ist. »Da kriegen wir in der letzten Zeit eher wieder mehr Patienten als weniger.«

Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, denn einige Viertel von Mogadischu wirken geradezu, als boome die Wirtschaft. Immer mehr Hotels und Geschäftshäuser werden hochgezogen, und im vergangenen Jahr wurde die einigermaßen luxuriöse »Mogadishu Mall« errichtet, ein Einkaufzentrum mit spiegelnden Fliesen und den bislang einzigen Rolltreppen des Landes. Aber trotz des neuen Reichtums habe sich die Lage der Bevölkerung kaum verbessert, meint Lul Mohamud Mohamed: »Die Schere zwischen Arm und Reich wird nur größer.«

Die Ärztin steht jetzt im ersten Krankenzimmer der Ernährungsstation. Alle Betten sind belegt, die Mütter wachen über die kleinen, knochigen Körper. Die Medizinerin in weißem Kittel und braunem Kopftuch geht auf das Bett der kleinen Amina zu, die seit drei Tagen hier ist. Das Mädchen ist vier Monate alt und wiegt nur gut vier Kilo. »Sechs wären in ihrem Alter normal«, sagt Lul. Dass sie sich um den Säugling sorgt, steht ihr ins Gesicht geschrieben.

Die Kleine hat wässrigen Durchfall. Ihre Mutter, die 18-jährige Sadia, wirkt ebenfalls geschwächt und fast zerbrechlich. Auch sie ist krank, außerdem in Sorge um Amina und zugleich voller Trauer: Auf dem Weg ins Krankenhaus ist ihr zweijähriger Sohn Mohamed gestorben. Er war durch wässrigen Durchfall völlig ausgezehrt. »Häufig kommen die Menschen einfach zu spät zu uns«, sagt die Kinderärztin bedauernd. Sadia ist mit ihren Kindern vor neun Monaten aus einem der vielen umkämpften Gebiete in Somalia geflohen und kam nach Mogadischu. Landesweit sind etwa 800 000 Somalier auf der Flucht vor Hunger, Dürre, Überschwemmung und Krieg.

Auf der Ernährungsstation hört Lul Mohamud Mohamed viele Geschichten, die Sadias Schicksal ähneln. 40 Prozent ihrer Patienten seien Vertriebene, sagt die Ärztin. Sie litten unter vermeidbaren Krankheiten wie Durchfall, Masern, Unterernährung oder Gehirnhautentzündung. »Durch Impfkampagnen könnte man viele unnötige Tode leicht verhindern«, sagt die Medizinerin. Sie betreut 120 Betten, schon seit längerem seien immer alle belegt, meistens mit Notfällen. »Eine Nacht, in der bei uns kein Kind stirbt, ist eine gute Nacht.«

Die Kindersterblichkeit in Somalia gehört seit Jahren zu den höchsten der Welt. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stirbt eins von sieben Neugeborenen, ehe es fünf Jahre alt wird. Auch die Müttersterblichkeit ist dramatisch. Von 100 000 Gebärenden überleben 1600 die Geburt ihres Kindes nicht. Die wichtigste Ursache dafür ist der jahrzehntelange Bürgerkrieg, der alle staatlichen Strukturen und auch das Gesundheitswesen zerstört hat. Die islamistische Shabaab-Miliz kontrolliert etliche Landesteile, kämpft gegen die schwache Regierung unter Präsident Mohamed Abdullahi Mohamed »Farmajo« und verübt regelmäßige Anschläge.

Lul Mohamud Mohamed versucht seit Jahrzehnten, dem großen Sterben etwas entgegenzusetzen. Noch bevor der Bürgerkrieg 1991 in Somalia begann, studierte sie Medizin in Mogadischu. Mit Hilfe eines Stipendiums machte sie ab 1996 ihren Facharzt als Kinderärztin in Deutschland. Von Berlin zog sie 1999 zunächst nach London, wurde britische Staatsbürgerin und kehrte sechs Jahre später nach Somalia zurück. Das war 2005, und ihr Land lag in Trümmern. »Aber meine Mutter war noch hier, um die ich mich kümmern musste«, erklärt die Ärztin. »Und außerdem gab es kaum noch Ärzte, ich wurde gebraucht.«

Das Banadir-Krankenhaus war damals geschlossen, mangels Personal. Die Ärztin machte sich daran, wenigstens die Pädiatrie, die Kinderheilkunde, wieder aufzubauen. Von den heute 30 Ärztinnen und Ärzten der Abteilung habe sie die meisten geschult, sagt Mohamed. Hilfsorganisationen halfen und helfen mit Medikamenten, medizinischen Geräten und Verbrauchsmaterial. Von der somalischen Regierung bekomme sie keinerlei Unterstützung, obwohl das Banadir-Krankenhaus dem Gesundheitsministerium offiziell untersteht.

Über die Untätigkeit der Regierung ist die klein gewachsene Ärztin häufig wütend. Davon entmutigen lässt sie sich nicht. Lul Mohamud Mohamed kämpft jeden Tag neu um das Leben jedes Kindes auf ihrer Station.

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