Kein Ausverkauf von Neukölln

Sanderstraße 11: Bezirk macht erneut Gebrauch von Vorkaufsrecht

  • Julia Boving
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Mieter der Sanderstraße 11 in Neukölln haben einen ersten Erfolg erzielt: Noch wird ihr Haus nicht verkauft. Die sogenannte Abwendungserklärung, die der Käufer abgegeben hatte, reichte dem Bezirksamt nicht aus. Der Käufer habe Veränderungen an der ausgearbeiteten Muster-Abwendung vorgenommen, erklärte Bezirksstadtrat Jochen Biedermann (Grüne) dem »nd«. Diese reiche nicht aus, um die »Ziele der sozialen Erhaltungssatzung« zu sichern. Denn: Die Sanderstraße 11 liegt in einem Milieuschutzgebiet, in dem soziale Verdrängung verhindert werden soll.

»Letzte Woche hat der Bezirk das Vorkaufsrecht ausgeübt«, erklärt Biedermann. Der ursprüngliche Erwerber legte dagegen fristgerecht Widerspruch ein.

Der Ausverkauf der Stadt ist in Berlin nichts Neues. Ob Neukölln, Kreuzberg oder Friedrichshain - durch Gentrifizierung und Privatisierung drohen die Kieze ihren einzigartigen, bunten Charme zu verlieren. Im Rahmen einer spekulativen Immobilienwirtschaft werden Wohnräume gekauft, saniert und teuer vermietet. Die sozialen Folgen sind weitreichend. Mieter*innen werden verdrängt und müssen sich auf dem bereits angespannten Wohnungsmarkt neu orientieren. Einige treibt dies sogar in Verarmung und Obdachlosigkeit.

Auch vor den Mieter*innen in der Sanderstraße macht der allgemeine Trend des Ausverkaufs von bezahlbarem Wohnraum keinen Halt. »Bereits seit Anfang März kursierten Gerüchte über den Verkauf der Wohnhäuser«, heißt es in einer Mitteilung der Hausgemeinschaft Sanderstraße 11/11a. Seit Mai haben die Mieter*innen nun Gewissheit. In einer Pressemitteilung schreibt der »Verein Sanderstraße 11«, dass »das Wohnhaus mit zwei Vorderhäusern und einem Hinterhaus zu einem unangemessen hohen Preis verkauft« wurde. Der Käufer ist nach Angaben der Mieterin Maria Berg (Name geändert) Armin Otto Heinrich Hofmann. Dieser sei Recherchen der Bewohner*innen zufolge eingetragener Geschäftsführer mehrerer Unternehmen in einem »dichten, undurchsichtigen Firmengeflecht«.

Aus Angst vor Mieterhöhung und Verdrängung organisierte sich die Hausgemeinschaft selbst und gründete einen Verein. Sie vernetzten sich mit Hausprojekten und anderen Initiativen. Zusammen wehren sie sich nun gegen den Ausverkauf im Milieuschutzgebiet Neukölln. In Kooperation mit der Nachbarschaftsinitiative »Bizim Kiez« organisierten sie Protestaktionen und Kundgebungen. Gemeinsam soll so Druck auf die Verantwortlichen Politiker*innen ausgeübt werden, Gebrauch vom sogenannten Vorkaufsrecht zu machen.

In Milieuschutzgebieten stehen den Bezirken verschiedene Instrumente zur Verfügung, soziale Verdrängung und das Schwinden bezahlbaren Wohnraums zu verhindern - so auch im Falle der Sanderstraße. Hier vereinbarte das Bezirksamt mit dem Käufer zunächst eine Abwendungserklärung, in der sich dieser zur Einhaltung der Ziele des Milieuschutzes verpflichten sollte. Dazu zählen unter anderem, keine Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umzuwandeln und Maßnahmen zu unterlassen, die zum Verlust von Wohnraum für die gebietstypische Bevölkerung führen könnten.

Mit der Ablehnung der »unzureichenden« Abwendungserklärung hat der Bezirk nun das Vorkaufsrecht zu Gunsten Dritter ausgeübt. Mit ins Spiel komme nach Angaben Biedermanns die städtische Wohnungsbaugesellschaft GEWOBAG. Diese habe bereits Vereinbarungen mit den Mieter*innen über zukünftige Kosten getroffen. Laut Maria Berg kommt es dadurch zu geringfügigen Mieterhöhungen, die für die Bewohner*innen der Sanderstraße tragbar seien. Die Ablehnung der Erklärung des Käufers bewertet die Mieterin positiv: »Das ist natürlich eine gute Nachricht«.

»Es wird jedoch eine Hängepartie bleiben«, sagt Biedermann auf Nachfrage. »Dem Käufer stehen alle Rechtsmittel offen«. Gegen die abgelehnte Abwendungserklärung hatte dieser bereits Widerspruch eingelegt. Biedermann ist sich hingegen sicher, dass der Bezirk gute Argumente hatte, die Erklärung des Käufers abzulehnen und zum Mittel des Vorkaufrechts zu greifen. Biedermann zufolge habe es bereits Fälle gegeben, in denen ein eingereichter Widerspruch durch Käufer*innen zurückgezogen worden sei und so ein längeres juristisches Verfahren vermieden wurde. Er bewertet es als Erfolg, dass Mieter*innen in Zusammenarbeit mit dem Bezirk soweit gekommen seien. »Es ist bereits das sechste Mal, dass der Bezirk vom Vorkaufsrecht Gebrauch macht«, erklärt der Politiker.

Auch Magnus Hengge, der bei der Initiative »Bizim Kiez« aktiv ist, freut sich über den kurzzeitigen Erfolg. »Bizim Kiez« bedeutet übersetzt »Unser Kiez«. Die Gruppe unterstützt Initiativen von Mieter*innen, die sich gegen einen Ausverkauf ihres Wohnraums wehren wollen. Sie helfen den Initiativen dabei Protest zu organisieren und sich zu vernetzen. Gleichzeitig versuchen die Aktivist*innen die Bezirke zeitnah auf Verkaufsprozesse aufmerksam zu machen, um diese zum Vorkauf anzuregen. »Es ist wunderbar, dass es nun auch in der Sanderstraße 11 geklappt zu haben scheint. Unser Ziel ist es, eine Drohkulisse für Investor*innen zu aufzubauen, damit sie vom Kauf abgeschreckt werden«, erklärt Hengge dem »nd«. Ob Selbstorganisation, Vernetzung und Zusammenarbeit mit den Bezirken ein geeignetes Mittel gegen Ausverkauf sind, wird sich zeigen.

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