+++ »Nazis werden Tag als Sieg verbuchen« +++

Tausende Hooligans und Rechtsradikale marschierten ungestört durch Chemnitz / Renner: »Heute haben wir das Potenzial einer außer Kontrolle geratenen und extrem gewaltorientierten Neonaziszene gesehen«

  • Sebastian Bähr (Chemnitz) und Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 7 Min.

Update 22:45 Uhr: »Heute haben wir das Potenzial einer außer Kontrolle geratenen und extrem gewaltorientierten Neonaziszene gesehen«
Sicher ist: Am Dienstag gibt es viel aufzuarbeiten. Unsere Kollege Sebastian Bähr ist mittlerweile auf dem Rückweg nach Berlin. Auch von den meisten anderen Journalist*innen haben wir gehört, dass diese sich teilweise schon vor längerer Zeit zurückgezogen haben. Der Grund ist nicht, dass es nichts zu berichten gegeben hätte. Teilweise auch erfahrene Kolleg*innen traten den Rückzug an, weil sie ihre Sicherheit akut gefährdet sahen. Einige TV-Teams hatten für den heutigen Einsatz sogar eine eigene Security engagiert.

Die sächsische Polizei wird die Frage beantworten müssen, warum mehrere Tausend gewaltbereite Neonazis marschieren durften, obwohl es bereits zu Beginn der rechten Demonstration zu wiederholten Übergriffen auf Gegendemonstranten als auch Reporter*innen kam. Auch unser Kollege berichtete, dass viel zu wenig Einsatzkräfte bereitgestanden hätten, um eine Eskalation zu verhindern. Als Fazit schreibt er: »Nazis werden Tag als Sieg verbuchen. Polizei hatte trotz Warnungen viel zu wenig Beamte. Journalisten, Antifas und migrantische Menschen waren massiv in Gefahr, einige wurden verletzt. Die Gewalt ging entgegen Polizeiaussagen eindeutig von den Nazis aus.«

Auch die LINKEN-Politikerin Martina Renner zeigte sich gegenüber »nd« schockiert: »Heute haben wir das Potenzial einer außer Kontrolle geratenen und extrem gewaltorientierten Neonaziszene gesehen. Diese hat seit Jahren auf einen Moment wie diesen gewartet, um ihren Hass auf alle, die ihrem rassistischen Weltbild nicht entsprechen, auf die Straße zu bringen. Nazis, die fast ungehindert durch die unvorbereitete und überfordert wirkende Polizei Jagd auf Migrantinnen, Antifaschistinnen und Journalistinnen machen können, muss sich auch in Zukunft eine breite Zivilgesellschaft entschlossen entgegenstellen. Allen, die das in Chemnitz getan haben, gilt unser Dank.«

Update 22:15 Uhr: Übergriffe auf Gegendemonstranten
Nach dem Ende des offiziellen Aufmarsches scheint nun das zu passieren, was Beobachter*innen befürchteten. Die Lage in der Stadt sei »total unübersichtlich«, berichtet unser Kollege vor Ort. Zwar eskortiere die Polizei jene Rechtsradikalen, die mit der Zug angereist waren, zum Bahnhof. Gleichzeitig seien aber weiterhin Hunderte Rechte in der Stadt unterwegs, weshalb es die ersten Meldungen zu Übergriffen auf Gegendemonstranten mit mehreren Verletzten gibt. Bereits gegen etwa 21.30 Uhr sollen laut unseres Kollegen Antifas während ihrer Abreise auf der Straße der Nationen/Johannisplatz von einer größeren Gruppe Neonazis überfallen worden sein. Dabei gab es mehrere Verletzte, darunter eine Frau, der die Nase gebrochen worden sein soll.

Update 21:27 Uhr: Rechter Aufmarsch offiziell beendet
Inzwischen ist der rechte Aufmarsch offiziell für beendet erklärt worden. Angemeldet hatte ihn die Kleinstpartei »Pro Chemnitz«. Zum Abschluss sagen die Teilnahme die Nationalhymne. Aufgelöst hat sich der Aufzug damit allerdings noch nicht. Noch immer sind zahlreiche gewaltbereite Hooligans sowie andere Neonazis in der Chemnitzer Innenstadt unterwegs, viele davon rund um das Karl-Marx-Monument, wo der Aufzug vor einigen Stunden begonnen hatte.

Update 21:15 Uhr: Neonazis kommen zu Marx-Monument zurück
Inzwischen ist der Neonazi-Aufmarsch vom Innenstadtring wieder zurück zum Ausgangspunkt am Karl-Marx-Monument zurückkehrt. Journalist*innen vor Ort berichten, dass Rechtsextreme aus dem gesamten Bundesgebiet nach Chemnitz angereist sind. Neuere Schätzungen gehen inzwischen von mehreren Tausend Neonazis aus.

Update 20:55 Uhr: Nazis können ungehindert marschieren
An dieser Stelle eine Auswahl an Parolen, die in den letzten drei Stunden von den Neonazis gebrüllt wurden, damit es nicht heißt, hier seien »besorgte Bürger« auf der Straße gewesen. »Deutschland den Deutschen«, »Hier marschiert der nationale Widerstand«, »Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen«, »Wir sind das Volk«, »Frei, sozial, national« - Hitlergrüße wären wohl nicht ansatzweise mitzuzählen gewesen. Die Kolleg*innen von »Endstation Rechts« schreiben von einer »Pogromstimmung«. besonders bitter: Selbst offensichtlich nicht am Aufmarsch teilnehmende Menschen jubeln den Neonazis zu und signalisieren ihre Zustimmung.

Update 20:44 Uhr: Nazis lösen sich aus Aufzug
Offenbar passiert nun das, wovor Beobachter der rechten Szene vor dem Aufmarsch gewarnt haben. Da die Polizei den Nazi-Aufmarsch kaum absichern kann, lösen sich immer wieder Rechte aus dem Aufzug heraus. Viele Journalisten haben sich bereits zurückgezogen. Unser Kollege schreibt: »Nazis sind enthemmt. 'Widerstand'-Rufe. Viele gehen in Seitenstraßen, wo Passanten aber keine Polizisten sind. Faschos können sich relativ frei bewegen. Einsatzkonzept nicht erkennbar.«

Update 20:35 Uhr: Explosive Stimmung
Sollte es einen Plan der sächsischen Polizei gegeben haben, damit dieser Abend in Chemnitz einigermaßen friedlich verläuft, ist dieser gründlich schief gegangen. Wiederholt fliegen aus den Reihen des Nazi-Aufmarsches Böller, Hitlergrüße werden gezeigt, teilweise sind die Rechtsextremen vermummt und bedrohen Gegendemonstranten als auch Journalisten.

Update 20:16 Uhr: Nazis dürfen marschieren
Unser Reporter vor Ort beschreibt die momentane Situation als »reichlich absurd«. Trotz wiederholter Angriffe auf Gegendemonstranten und Journalisten durch die Nazis hat sich der rechte Aufmarsch vor wenigen Minuten in Bewegung gesetzt. Die Route soll über den Chemnitz Stadtring verlaufen. Offenbar ist die Polizei weiterhin mit viel zu wenigen Einsatzkräften vor Ort.

Update 20:07 Uhr: Nazis werfen Böller und Pyrotechnik
Aus den Reihen der Neonazis kommt es nach Informationen unseres »nd«-Reporters vor Ort wiederholt zu massiven Angriffen auf Journalisten und Gegendemonstranten. Die Rechten werfen mit Flaschen, Böllern und Pyrotechnik, die Polizei hat damit begonnen, Wasserwerfer aufzufahren. Allerdings sollen nach Einschätzung des Kollegen viel zu wenig Beamte vor Ort sein, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Inzwischen sollen es mehr als 2000 Rechtsextreme sein, die sich an dem Aufmarsch beteiligen.

Update 19:58 Uhr: Es gibt auch ein solidarisches Chemnitz
Bei den Protesten gegen den Nazi-Aufmarsch ist auch Dagmar Weidauer, Stadträtin der LINKEN, dabei. Sie sagt: »Ich bin hier um zu zeigen, dass es auch ein solidarisches Chemnitz gibt. Von der Landesregierung hätte ich mir eine konkretere Ansage gewünscht, vor allem von Herr Kretschmer. Von Rechten geht hier immer eine Gefahr aus.«

Update 19.55 Uhr: Die CDU »relativiert« wieder nur
»Was wir hier sehen, ist das Gesicht des Faschismus und durch Nichts zu rechtfertigen. Mich wundert zudem, dass nur relativ wenige Beamte im Einsatz sind. Und ich bin entsetzt, dass die CDU wieder nur relativiert«, so der sächsische Grünen-Politiker Jürgen Kasek.

Update 19.35 Uhr: Erneut über 1000 rechte Demonstranten in Chemnitz
Wie auf einschlägigen Internetseiten und den sozialen Netzwerken angekündigt, haben sich am Montagabend mehr als 1000 Rechtsradikale in der Chemnitzer Innenstadt zu einem erneuten Aufmarsch versammelt. Unter ihnen sind neben Anhängern der AfD, auch Sympathisanten der Neonazikleinstpartei »Der III. Weg« sowie zahlreiche gewaltbereite Hooligans. Wie unser nd-Reporter vor Ort berichtet, treten zahlreiche Rechte besonders aggressiv auf und sind offenbar alkoholisiert.

Ihnen gegenüber stehen zur Stunde im Chemnitzer Stadthallenpark ebenfalls etwa 1000 Gegendemonstranten, die gegen den rechtsradikalen Aufmarsch protestieren.

Politik verurteilt Hetzjagden in Chemnitz

Chemnitz. Nach den Attacken gegen mehrere Migranten wegen des gewaltsamen Todes eines Mannes am Rande eines Stadtfestes in Chemnitz haben Politiker die Eskalation scharf verurteilt. »In Deutschland ist kein Platz für Selbstjustiz, für Gruppen, die auf den Straßen Hass verbreiten wollen, für Intoleranz und für Extremismus«, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin.

»Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, oder der Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten, das nehmen wir nicht hin, das hat bei uns in unseren Städten keinen Platz, und das kann ich für die Bundesregierung sagen, dass wir das auf das Schärfste verurteilen«, betonte Seibert.

In Chemnitz war am Wochenende bei einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Besuchern des Stadtfestes ein 35 Jahre alter Deutscher niedergestochen worden und später gestorben. Danach marschierten am Sonntag Anhänger rechtsextremer Gruppierungen auf. Rund 1000 Menschen folgten dem Aufruf einer rechten Ultra-Gruppierung aus dem Umfeld des Fußball-Regionaligisten Chemnitzer FC.

Auf Videos ist zu sehen, wie Ausländer und auch Polizisten aus der Menge heraus attackiert wurden. Zu hören sind Rufe wie »Wir sind das Volk«, aber auch rechte Parolen wie »Deutsch, sozial, national«. Wegen Sicherheitsbedenken war zuvor das Stadtfest abgebrochen worden.

Ein Haftrichter erließ am Montag auf Antrag der Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen einen 23-jährigen Syrer und einen 22 Jahre alten Iraker wegen gemeinschaftlichen Totschlags. Sie sollen nach dem Streit mehrfach ohne erkennbaren Grund auf das Opfer eingestochen haben.

»Besonders aktiv und auch am aktuellen Demo-Geschehen beteiligt ist die rechtsextremistische Hooligangruppierung Kaotic aus dem Umfeld des Chemnitzer FC, die ebenfalls wie die gleichfalls rechtsextremistische Gruppierung NS-Boys («New Society Boys») mit ihren Aktivitäten zum Anziehungspunkt für Angehörige von neonationalsozialistischen Strukturen und subkulturellen Gruppierungen geworden ist«, sagte ein Sprecher der Behörde der dpa. Man habe wiederholt auf die Gefahr aufmerksam gemacht, die von diesem Personenkreis ausgehe. Agenturen/nd

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