Verklärung und Diffamierung

Schwindsucht - Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte von Ulrike Moser

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 4 Min.

Vom Zauberberg ins KZ. Was für ein Abstieg! Die Geschichte der Schwindsucht ist eine Geschichte der Abwertung.« Mit diesen drastischen Worten fasst die 1970 geborene Berliner Historikerin Ulrike Moser ihre »andere deutsche Gesellschaftsgeschichte« zusammen, die einen ungewohnten Blick auf die letzten 200 Jahre wirft.

Heute heißt die Schwindsucht Tuberkulose und hat ihren einstigen Schrecken verloren. Robert Koch entdeckte den Erreger Mycobacterium tuberculosis 1882, 1905 erhielt er dafür den Nobelpreis für Medizin. Das Antibiotikum Streptomycin fanden drei US-amerikanische Forscher der Rutgers University 1943, von denen Selman Waksman diejenige war, der 1952 der Nobelpreis für Medizin zugesprochen wurde. Das sind die Rahmendaten für die gesellschafts- und kulturgeschichtliche Erzählung von Ulrike Moser.

Der Autorin geht es um die gesellschaftliche Wahrnehmung dieser Krankheit, die bis zu ihrer Heilbarkeit, also bis nach dem Zweiten Weltkrieg, eine der Haupttodesursachen in Deutschland und der Welt war. Bis zur bahnbrechenden Entdeckung von Koch geisterten die abenteuerlichsten Theorien über Ursachen und Auslöser der Krankheit auch durch die sogenannte wissenschaftliche Welt. Religiöse, moralische, dem Aberglauben zuzuschreibende Erklärungen und Ergebenheit dominierten.

»Mit der Romantik begann eine Umdeutung und Aufwertung von Krankheit ... Die Tuberkulose galt als schicksalhafte Krankheit der Genies, der Künstler, der Liebenden und später der Bohème.« Der Idealisierung widmet sich die Autorin besonders ausführlich. Sie beruft sich auf die Zeugnisse prominenter Betroffener, erzählt von den Verklärungen der Schönheit bei Schwindsüchtigen wie bei Novalis oder Chopin, zitiert aus dem ergreifenden Journal der russischen Künstlerin und femme fatale Marie Bashkirtseff und stellt ihr gespensterhafte Schönheiten des Schriftstellers Edgar Allen Poe und die liebliche Gabriele Klöterjahn aus Thomas Manns Novelle »Tristan« an die Seite. Die kulturgeschichtlichen Passagen unterbricht Ulrike Moser immer wieder mit Ausblicken auf die hilflosen Versuche der Therapeuten, der tödlichen Krankheit Herr zu werden.

Zu den Mitteln gegen die Schwindsucht gehörte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die »gute Luft«, das Sanatorium als Lungenheilanstalt war geboren. Die ersten entstanden in Schlesien und bei Frankfurt am Main, bald kamen auch welche in der Schweiz hinzu. Der nach der gescheiterten Revolution von 1848 aus Baden in die Schweiz geflohene Jurastudent und spätere Arzt Spengler eröffnete in dem Bergdorf Davos ein erstes Lungensanatorium und begründete damit die vor dem Ersten Weltkrieg weltberühmte Tradition des Ortes. Thomas Mann hat mit seinem 1924 erschienenen Roman »Der Zauberberg« gleichsam postum einen Abgesang auf das »Sanatorium als Lebensform« der Reichen und Adligen geschrieben.

Da aber war die Schwindsucht bereits als »Krankheit der Proletarier« in den Blick von Künstlern genommen worden. Die durch die Entdeckung von Koch feststehende Tatsache, dass die Tuberkulose eine ansteckende Krankheit ist, führte zu zynischen Schuldzuweisungen an die Ärmsten der Gesellschaft, die in bedrängten Wohnverhältnissen bei selten ausreichender Ernährung erkrankten und die Ansteckungsgefahr für alle erhöhten. Gegen diese rücksichtslose Diffamierung der ausgebeuteten Armut wandten sich Künstler, die damit ihren eigenen Ruf aufs Spiel setzten.

Die Autorin beruft sich auf Arthur Schnitzlers Novelle »Sterben« und auf den immer wieder in Davos kurenden Dichter Klabund. Sie erzählt vom norwegischen Maler Edvard Munch als »Maler von Krankheit, Angst und Tod«, dessen Ausstellung mit schockierenden Bildern von tuberkulosekranken Kindern in Berlin 1892 auf behördliche Anweisung hin nach einer Woche geschlossen wurde. Der junge Oskar Kokoschka malte 1909 in Davos Porträts der adligen und reichen Sanatoriumsgäste, die ihm die Bilder wegen der »dargestellten Hässlichkeit« nicht abnahmen. Auch Heinrich Zille klagte die Verlogenheit der Vorwürfe gegen die Armen an.

Im Schlusskapitel stellt die Autorin in kaum erträglicher Genauigkeit die Behandlung der an Tuberkulose Erkrankten während der Nazizeit dar. Obwohl längst bekannt war, dass es sich um Ansteckung handelte, wurden die Kranken nach »Erbgesundheitsregeln« abgesondert und ermordet. Besonders verbrecherisch waren die Menschenversuche an gesunden jüdischen Kindern aus Auschwitz, die ab November 1944 im KZ Neuengamme mit Tuberkelbazillen infiziert wurden. Ende April 1945 wurde die von dem Arzt Heißmeyer geleitete Abteilung nach Hamburg verlegt und die Kinder wurden in einem verlassenen Schulgebäude ermordet.

Ulrike Moser: Schwindsucht. Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte. Matthes & Seitz, 264 S., geb., 26 €

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