Der Regen und die Traufe

In der unvollendeten Währungsunion treffen alte Konzepte auf uralte Konzepte. Aber wo ist die Linke?

  • Andreas Thomsen
  • Lesedauer: 7 Min.

Sechzig Jahre nach Inkrafttreten der Römischen Verträge befindet sich die Europäische Union in einer durchaus existenzbedrohenden Krise. Die sogenannte Euro-Krise, die Schulden- und die Finanzmarktkrise sind in ihren Auswirkungen nach wie vor ganz besonders in der Peripherie der Europäischen Union spürbar. Die ökonomischen Differenzen zwischen Zentren und Peripherie der Union nehmen zu. Die ökonomischen Krisen sind durch eine tiefe Legitimationskrise ergänzt worden. Der Brexit ist nur deutlichster Ausdruck diese Krisengeschehens. Die Reaktionen der Mehrheitskräfte in der Europäischen Institutionen haben dabei fatale Auswirkungen gezeitigt. Insbesondere die fortgesetzte Austeritätspolitik gegen Ökonomien und Gesellschaften in der Peripherie der Europäischen Union, teils mit völlig unverhohlenen Mitteln der Erpressung durchgesetzt, haben die ökonomischen Folgen der Krise verstärkt und die Legitimität der Union weiter untergraben. Diese - zumeist miteinander verwobenen oder aufeinander bezogenen - Probleme werden durch eine Reihe bedenklicher Entwicklungen markiert:

Die Verstärkung des wirtschaftlichen Auseinanderdriftens der Mitgliedsstaaten der Peripherie und des Zentrums der EU.

die-zukunft.eu

Der Beitrag von Andreas Thomsen ist zuerst auf der Webseite die-zukunft.eu veröffentlicht worden. Die Onlineplattform hat sich die Aufgabe gestellt, Debatten über ein anderes, besseres Europa zusammenzuführen. Im Gegensatz zu bereits existierenden Webseiten geht es bei »die-zukunft.eu« jedoch nicht in erster Linie um Tagespolitik und aktuelle Entwicklungen in der Auseinandersetzung um ein neues Europa (die aber in einer Blog-Rubrik beleuchtet werden).

Im Mittelpunkt steht die Darstellung von strategischen Positionen und Konzepten für eine andere EU und für Einzelbereiche ihrer Politik – ebenso wie das Aufzeichnen von Visionen für ein anderes Europa.

Die Infragestellung der Union als Ganzes durch eine Stärkung von Austrittbewegungen aus Euro oder Union und auch durch den Brexit.

Die weitere Stärkung chauvinistischer, rechtspopulistischer, rechtsradikaler Kräfte, die in einigen Ländern auch Regierungen stellen oder an ihnen beteiligt sind.

Die EU-Reformvorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron markieren dabei einen weiteren Versuch, die neoliberale Regulation in der EU auf dergestalt neue Beine zu stellen, dass dadurch doch noch eine Verteidigung und auch Neujustierung der angeschlagenen neoliberalen Rezepte denkbar und durchführbar wird. Es bleibt jedoch zunächst offen, ob dies gelingen kann. In den meisten Mitgliedsstaaten der EU und so auch in der Europäischen Union insgesamt sind es die rechtsautoritären Kräfte, die nationalstaatliche, souveränistische Alternativen vorschlagen, während sich die Linke in Europa zunehmend fragmentiert und damit ratlos präsentiert. Dabei wäre gerade in dieser gefährlichen Phase ein progressiver, linker Block in der Europäischen Union vonnöten, der sowohl den nach wie vor hegemonialen neoliberalen Kräften als auch ihren autoritären und nationalchauvinistischen Gegenspielern mit eigenen authentisch demokratisierenden und sozialen Alternativen entgegentreten kann.

Im Zentrum dieser Formulierung einer grundlegend reformierten Europäischen Union würden sich also zwei Achsen finden müssen. Die erste Achse wäre eine alternative Wirtschafts- und Sozialpolitische Agenda, die Forderung nach dem Aufbau einer echten Sozialunion, nach einer Politik des Schuldenausgleichs, nach Infrastruktur- und Investitionsprogrammen und ähnlichem. Die zweite Achse wäre die nach einer echten und nachvollziehbaren Demokratisierung der Union, nach Regionalisierung und Dezentralisierung da, wo es möglich und nötig erscheint, nach einer Reform der Union also, die die Europäische Union als tatsächlich demokratische Struktur erkennbar macht. Dies beinhaltet auch eine Europäische Union, die tatsächlich entschlossen, willens und in der Lage ist, die demokratischen und Bürgerrechte ihrer EinwohnerInnen auch in den Mitgliedsstaaten zu gewährleisten und durchzusetzen, wo diese bedroht sind. Beide Achsen, die Idee der Herausbildung einer echten Sozialunion, wie auch einer grundlegenden demokratischen Reform der Europäischen Union bedeuteten schließlich auch einen Neustart der Union und eine Begegnung der Legitimitätskrise. Fraglich ist, ob die bekannten, heute noch hegemonialen Konzepte einen Zerfall der Europäischen Union dauerhaft verhindern können.

Wenn europäische Integration weiterhin Sparpolitik, Abbau sozialer Netze und Privatisierungen bedeuten und wenn darüber hinaus erkennbar wird, dass es in der Union weder möglich wird, demokratische und gegebenenfalls auch dezentralisierende Reformschritte zu gehen, noch die Union in der Lage ist, in einer Reihe von Mitgliedsländern ganz grundlegende demokratische Rechte zu verteidigen bzw. durchzusetzen, dann wird der Zerfall der Union kaum aufzuhalten sein. Die EU als reine Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft kann kaum eine Zukunft haben. Die Vertiefung der Union hat als einzige Alternative den gegenläufigen Prozess, den Prozess der Desintegration und des Zerfalls der Union.

Eine Fortschreibung des Status quo, dies scheint insbesondere der Irrtum der deutschen Bundesregierung, wird die Europäische Union nicht zusammenhalten können. Durch die Euro- und Schuldenkrise und einige weitere Entwicklungen wurde der ökonomische und politische Einfluss Deutschlands in der Union weiter beträchtlich gestärkt. Die deutsche Regierung ist es nun selbst, die ein endgültiges Auseinanderbrechen der Euro-Zone und damit auch der Europäischen Union durch eigenes Verschulden provozieren könnte. Dies wäre dann der Fall, wenn Berlin auch künftig die bekannte Strategie der Exportorientierung und des Monetarismus fortsetzen wollte, die auch die weiteren Ökonomien der Europäischen Union belastet und zugleich Grundlage für die, einigen Ländern in Notlagen abgepressten Privatisierungsorgien und Verelendungstendenzen ist.

Nur durch Umsteuern, nur durch Reform ist die Europäische Union aufrecht zu erhalten, während die Verteidigung des Status quo zur weiteren Desintegration beitragen würde.

Bei den angesprochenen notwendigen Reformschritten zur Demokratisierung der Union geht es zunächst um wirklich grundsätzliche Fragen demokratischer Standards. Eine erkennbare Stärkung des EU-Parlaments sowohl gegenüber den weiteren Institutionen als auch gegenüber den nationalen Parlamenten - Durchsetzung demokratischer Rechte anstatt des Postulats der gemeinsamen Werte. Die Verlagerung zentraler Aufgaben in demokratisch gewählte und so legitimierte Gremien. Im Zuge der Euro-Krise wurde die sogenannte »Euro-Gruppe« auf den Schild gehoben. Inoffiziell, vertraglich nicht legitimiert und dennoch ganz besonders gegenüber dem Mitgliedsstaat Griechenland und seiner demokratisch sehr wohl legitimierten Regierung übermächtig auftretendes Gremium. Kontrollierbare und transparent arbeitende Gremien gehören aber zu den Mindeststandards, die durch demokratische Reformen unbedingt zu erreichen wären. Eine demokratisch legitimierte und kontrollierte Europäische Wirtschaftsregierung ist damit eine demokratische wie auch ökonomische Notwendigkeit. Und diese Europäische Wirtschaftsregierung hätte dann auch zur Aufgabe, die notwendigen politischen Umlenkungsprozesse zu steuern.

Die Eurozone ist ein Beispiel für eine unvollendete und daher instabile, extrem krisenanfällige Währungsunion. Wesentliche Elemente und Instrumente zur Steuerung der ökonomischen Entwicklung fehlen oder sind unterentwickelt. Eine Vertiefung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sollte dann durch linke Kräfte begrüßt werden, wenn diese insbesondere soziale Standards beachtet, ausbaut, verankert. Gleiches gilt für eine einheitliche Politik der Kreditaufnahme. Die Verankerung einer Schulden- und auch Ausgleichsunion gehört ebenso wie die Einführung von Eurobonds zu denjenigen Maßnahmen, die es der Ökonomie des Euroraums erlauben können, aus einer Situation der verstetigten Krise und Instabilität auszubrechen.

Der Situation in Deutschland kommt bei all diesen Fragen eine zentrale Rolle zu. Es ist das deutsche »Konkurrenzmodell«, das die bekannten verheerenden Auswirkungen auf den Euroraum und die gesamte Europäische Union provoziert. Wenn selbst die liberalen europäischen Reformvorschläge Emmanuel Macrons im Wesentlichen zum Ziel haben, dieses deutsche Modell in Frage zu stellen, wenn in Reaktion auf die fatalen Entwicklungen im Euro-Raum rechtspopulistische und rechtsradikale Kräfte stetig stärker werden, Regierungen in Mitgliedsländern stellen oder daran beteiligt werden, dann wird deutlich, wie dringend eine wirklich progressive, soziale und demokratische Alternative gebraucht wird. Werden die kommenden vier Jahre nach der anstehenden Wahl zum europäischen Parlament also von einem Duell zweier Blöcke gekennzeichnet sein? Eines liberalen bzw. neoliberalen Blocks, der bei allen inneren Differenzen bemüht sein wird, mit alten und gescheiterten Konzepten den Status quo zu erhalten, und eines zweiten, chauvinistischen, reaktionären, nationalistischen Blocks, dessen ebenfalls bereits gescheiterte Alternativen die älteren, die brutaleren und rücksichtsloseren sind? Oder kann sich in diese Auseinandersetzungen ein weiterer Block mit eigenen sozialen, demokratischen Alternativen einmischen?

Hier liegt die Aufgabe der europäischen Linken. Das deutsche Modell für den Euroraum hat den nationalen Wettbewerbsstaat ins Innere eines gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraums verlegt, die rechte Alternative möchte diese fatale Arena einreißen, die nationalen Wettbewerbsstaaten wieder freisetzen. Als progressive Alternative bietet sich alleine an, im gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum Bedingungen zu schaffen, in denen das Prinzip des Wettbewerbsstaates unterbrochen werden kann. Nennen wir es Neustart oder nennen wir es Reform, um eines geht es dabei immer: Um eine tiefgreifende Veränderung der Bedingungen europäischer Integration. Um den Aufbau einer demokratischen und sozialen europäischen Union.

Andreas Thomsen, Sozialwissenschaftler, leitet seit März 2018 das Büro Brüssel der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Seit 2007 arbeitete er als Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung vor allem im deutschen Bereich.

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