Die deutsche Ideologie

Für Roberto De Lapuente hat der Rassismus in Sachsen vor allem soziale Ursachen

  • Roberto De Lapuente
  • Lesedauer: 4 Min.

Ich landete vergangene Woche in einer Gesprächsrunde des Deutschlandradios. Es ging um Chemnitz. Titel: Ist der Geist aus der Flasche? Mit dabei: Historiker Norbert Frei, Publizistin Liane Bednarz und »FAZ«-Journalist Peter Carstens. Stephan Detjen leitete die Runde und kam prompt auf Carstens’ an diesem Tag erschienen Artikel zu sprechen. In dem ging es um die sächsische Grundverstimmung, die 200 Jahre zurückliege. Als Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Preußentum quasi habe man das bis heute bewahrt. Eine Viertelstunde, just ein Drittel der Gesprächszeit, rang die Runde dann um die Sachsen, die man jetzt am besten per Bundeszwang und mit der fortwährenden Vermittlung westlicher Werte in den Griff bekommen sollte. Ich merkte an, dass der Rechtsruck nicht nur in Sachsen bestehe - und dass hier der Besserwessi einen Bundesmoralismus pflege: Keiner in unserer netten Runde kam nämlich aus dem Osten.

Danach ging es viel um Moral, um Werte und um rechte Menschenfänger. Detjen hatte das Gespräch auch damit eingeleitet, dass in Chemnitz Neonazis, Rechtsradikale und Deutschnationale auf der Straße waren. Von den normalen Bürgern, die sich dazugesellten, sprach er nicht. Dabei ginge es ja gerade um sie, die Fanatiker kriegt man ja eh nicht mehr auf die Spur, die sind so verfestigt in ihrem Weltbild, da hilft kein Dialog mehr. Erst nach einer geschlagenen halben Stunde kam die Sozialpolitik als eine mögliche Ursache aufs Tapet, die Agendapolitik und die Verunsicherung zur Sprache. Frei ließ die Agendapolitik jedoch nicht gelten, sie sei zu lange her. Die 200 Jahre des währenden Sachsenkomplexes gelten als Motiv - 15 Jahre Austerität nicht. Am Ende hoffnungsvolle Worte: Der Bundespräsident habe zuletzt viel über unsere Werte gesagt, das sollte man immer wieder in den Medien hervorheben, erbat sich Frei. Ebenso wie Berichte vom »guten Osten«.

Ethische Pädagogik: Dabei ließ man es in dem Gespräch bewenden. Sie würde das rechtsverrückte Land wieder auf einen guten Weg bringen. Materialistische Ansätze hingegen hatten keinen guten Stand, sie wurden nur kurz gestreift und gleich verworfen. Ein Deutschland, in dem wir alle gut und gerne leben, in dem kann der Umstand, dass Normalbürger Seit’ an Seit’ mit Leuten laufen, die eindeutig nazistische Parolen schwingen, doch gar kein ökonomisches Grundmuster haben. Uns geht es doch allen gut, was heißt: In diesen Leuten steckt einfach nur der rechte Ungeist, den man mit strikten Moralismus austreiben muss.

Ich bringe diese Radiorunde nicht zur Sprache, um den anderen Teilnehmern jetzt noch eine mitzugeben. Mir geht es um was anderes. Das Gespräch legte beredte Zeugnis davon ab, an was die diesbezügliche Debatte in Deutschland zuweilen krankt. Der Kampf gegen Rechts wird vor allem als dünkelhafter Moralismus verstanden, als ein idealistischer Auftrag begriffen, der sich handfester, sprich ökonomischer oder materialistischer Bewertungen verschließt. Er will ein pädagogischer Auftrag sein, ein mahnender Zeigefinger, wobei sich der Mahner stets selbst bestätigt, dass er zu den Guten gehört, weil er die humanere Ideologie pflegt.

Daher forscht man nach originellen Erklärungsmustern, geht 200 Jahre zurück, lässt aber die aktuellen Themen unter den Tisch fallen, weil man in dieser Kategorie nicht so eindeutig moralisch agieren kann. Etwa 170 Jahre ist es hingegen her, dass Marx und Engels über ähnliche Tendenzen schrieben. Sie gingen mit den Junghegelianern ins Gericht, die in Teilen noch der deutschen Romantik anhingen, die die Lebensverhältnisse der Menschen nicht als Folge der ökonomischen Verhältnisse begriff, sondern andersherum. Das Manuskript nannten sie »Die deutsche Ideologie«, es sollte Hegel vom Kopf auf die Füße stellen - diese Ideologie scheint sich dieser Tage als Wiedergänger in die Debattenkultur eingeschlichen zu haben.

Es ist nicht schlecht, wenn wir über Werte sprechen. Und was wir uns für ein gutes Miteinander wünschen. Aber die Werte einer liberalen Gesellschaft, der man politisch wie wirtschaftlich den Gemeinschaftsgedanken aberzogen hat, als besseren Entwurf zu verkaufen: Das ist blind. Wo sind die Demokraten? So fragt man momentan oft. Wir sollten konkretisieren: Wo sind die Sozialdemokraten? Sie stehen begrifflich für jene, die ökonomisch umsteuern wollen. Die aktuellen Sozis sind das leider nicht, die sind selbst junghegelianisch unterwegs. Dieser Junghegelianismus 2.0 ist jedenfalls keine sinnfüllende Antwort auf all die Fragen, die sich jetzt auftürmen.

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