nd-aktuell.de / 07.09.2018 / Kultur / Seite 14

Der geistige Provinzialismus selbst ernannter Gralshüter

Maurizio Bettini entlarvt die trügerische Rhetorik rechter Gruppierungen

Mirco Drewes

Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark«, ließ Thomas de Maizière vor einiger Zeit in einem Gastbeitrag in der »Bild am Sonntag« verlauten. Der damals noch amtierende Innenminister redete vom »Erbe der Geschichte« und der prägenden Kraft der Vergangenheit. Er fand in Alexander Gauland einen Fürsprecher mit ziemlich konkreten Vorstellungen: »Ich möchte dieses Land«, so der Vorsitzende der AfD in einer Talkrunde, »wie wir es von unseren Vätern ererbt haben. Und so soll es bleiben.«

Konservative bis nationalistische Parteien und die identitären Bewegungen in ganz Europa beschwören Tradition als Leitstern zukünftiger Entwicklungen. Dabei bedienen sie sich einer einheitlichen Rhetorik, die um eine zentrale Denkfigur herum ihre Motive mobilisiert. Maurizio Bettini, Professor für klassische Philologie an der italienischen Universität Siena, unterzieht das sprachliche Manipulationsmuster der neuen Rechten einer eingehenden Betrachtung. Sein Essay kommt zur, im doppelten Wortsinne, rechten Zeit.

Bettini legt eine konsequent philologische Untersuchung vor, die die rhetorische Analyse mit kritischer Historiographie verbindet. Dabei wagt er sich nicht aufs politische oder moralphilosophische Glatteis, zeigt aber ebenso scharfsinnig wie eindeutig auf, wo sprachliche Verständigung über Wahrheit aufhört und mit Manipulation Politik gemacht oder Ressentiments geschürt werden. Dies tut er nahe am konkreten Beispiel und zitiert umfangreich aus politischen Reden unserer Tage. Dass er dabei vornehmlich auf den italienischen Sprachraum zugreift, tut dem Gewinn der Lektüre keinen Abbruch. Die Parallelen in der Rhetorik von Lega Nord, Front National oder der AfD sind überaus augenfällig.

Der zentrale Begriff der Identitären ist: Tradition. Dieser werde, so die Analyse Bettinis, mobilisiert gegen die westliche Homogenisierung der Welt und zum »Bollwerk der Differenz« ausgebaut. In der Ausdeutung des Begriffes Homogenisierung bleibt Bettini wenig trennscharf. Überformt der Konsumismus das Widersprüchliche und Eigenwillige und führt zu einer einheitlichen Welt als Ware in einem Verwertungszusammenhang, so sorgt die Globalisierung doch auch, zumindest vordergründig, für nähere Erfahrbarkeit von kulturellem Pluralismus. Stringent und überzeugend fällt seine Analyse des rhetorischen Kampfbegriffs »Tradition« aus, in welchem Vergangenheit als Rekonfiguration von Gruppenidentität erscheint und das Anderssein der jeweils Anderen betont. Das zentrale Motiv identitärer Manipulation führt eine Reihe semantischer Konnotationen mit sich: Die Rede von der »Wurzel« markiert eine unabänderliche Zugehörigkeit; sie rückt die Tradition in die Nähe einer unfehlbaren Naturordnung; sie führt die Bedeutung einer Basis, eines Fundaments mit sich, aus dem alle Lebendigkeit hervorgeht. Auf diese Weise wird Tradition behauptet als »Dispositiv der Autorität«. Der Vergangenheit wird eine determinierende Kraft zugeschrieben.

Geistreich wandert Bettini durch die wechselvolle und widersprüchliche Geschichte der viel beschworenen antiken Kulturen Athens und Roms sowie der jüngeren europäischen Geschichte und zeigt anhand schlüssig aufbereiteter Beispiele, wie selektiv Vergangenheit im kollektiven Gedächtnis rekonstruiert wird, wie das Geschehene bis zur Lüge geglättet wird, um schließlich als Leitstern für die Zukunft herhalten zu können. Sein überzeugendes Fazit lautet, dass die Verwechslung von Identität und Tradition aus derjenigen von individueller und kollektiver Erinnerung folgt und dass eine verabsolutierte Nostalgie nichts ist als geistiger Provinzialismus. Die Rede von der »wahren Identität«, so Bettini, ist Mythologie und Kulturtheologie. Das Wesen von Kultur bestehe gerade in der Möglichkeit und Notwendigkeit von Veränderung. Den besorgten Bürgern und selbst ernannten Gralshütern der Tradition, die nach Schuldigen für den Wandel unserer Gesellschaft suchen, gibt Maurizio Bettini einen Hinweis in Form eines hübschen Bonmots: »Schuld ist die Zeit, die den Fehler hat, nicht stehen zu bleiben«.

Maurizio Bettini: Wurzeln. Die trügerischen Mythen der Identität.[1] Verlag Antje Kunstmann, 158 S., geb., 16 €.

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