Gewaltenteilung mit dem Verbrechen

Polizeiskandal in Ungarn ist auch Bankrotterklärung der Politik

  • Gábor Kerényi, Budapest
  • Lesedauer: 3 Min.
Am vergangenen Wochenende wurden auf Initiative von Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány Ungarns gesamte Polizeiführung und der Justizminister entlassen.
Dass jedes beliebige Auto auf Behinderten-Parkplätzen wochenlang ungestört stehen kann, haben die Budapester ebenso achselzuckend hingenommen wie die Tatsache, dass die Polizisten in der Hauptstadt für den Wunsch nach Auskunft in der Regel nur ein Schulterzucken übrig haben. Aber das alles ist noch harmlos. Vor einigen Monaten wurde eine Universitätsprofessorin am helllichten Tag in einem internationalen Zug von Wien nach Budapest Opfer eines versuchten Raubüberfalles. Brutal bedrohte sie ein Mann sexuell. Das Zugpersonal verständigte die Polizei, doch als die Bahn fast eine Stunde später planmäßig in Kelenföld einfuhr, war kein Polizist zu sehen. Der Täter spazierte grinsend davon. Die Frau zeigte den Fall umgehend an, Antwort bekam sie seitdem nicht. Oder: Vor drei Wochen überfiel ein Mann eine Filiale der größten ungarischen Bank. Die Polizei erschoss den Täter. Trotzdem fehlten etwa 2000 Euro in der Kasse - ein Beamter ließ sie mitgehen. Er wurde nur degradiert und ist weiter im Dienst. Polizeiliche Willkür und Korruption gehören zum Alltag. Doch nun scheint das Fass übergelaufen. Vergangene Woche wurden 16 Polizisten verhaftet, weil sie für das Abschleppen verunglückter und falsch geparkter Fahrzeuge ausschließlich die Dienste bestimmter Firmen in Anspruch genommen hatten und von diesen als Gegenleistung regelmäßig beträchtliche Summen erhielten. Und dann wurde ein Vorfall publik, der sich zum regelrechten Skandal auswuchs. Am 4. Mai haben fünf Polizisten nachts auf dem innerstädtischen Museum-Ring in Budapest eine 21-jährige Autofahrerin angehalten, sie war nicht angeschnallt. 20 000 Forint, ein Fünftel des ungarischen Durchschnittslohns, sollte sie zahlen. So viel Geld hatte sie aber nicht dabei. Die Ordnungshüter zwangen die Frau in ihr Dienstfahrzeug, um das Geld aus der Wohnung zu holen. In einer dunklen Seitengasse wurde sie von zwei der Polizisten vergewaltigt. Die anderen sicherten derweil den Tatort - und knöpften dem Opfer zum Schluss die Geldstrafe ab. Nach mehrwöchiger landesweiter Empörung wurden die fünf Polizisten am vergangenen Freitag endlich identifiziert und verhaftet. Das alles war schließlich auch Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány zu viel. Er entschied sich zu einem bis dato beispiellosen Schritt und veranlasste die Entlassung des ungarischen Polizeipräsidenten, des Polizeichefs von Budapest, des Chefs des Polizeilichen Sicherheitsdienstes und auch des Justiz- und Sicherheitsministers. Seit 1990 wurde immer wieder die Vision einer neuen ungarischen Polizei propagiert: männlich-stark, bürgerfreundlich, schlagkräftig, transparent usw. Die Bürgerinnen und Bürger nehmen jedoch nur ignorante Sicherheitskräfte wahr, die den Menschen nicht helfen, sondern ihre Hauptaufgabe offensichtlich in dummdreister Einschüchterung sehen. Der Politik wiederum fehlt jede Konzeption für eine Polizeireform. Dieser fachliche und moralische Bankrott ist letztlich das Ergebnis der 17-jährigen Tätigkeit von sechs Nachwenderegierungen, die weder dem Erbe einer autoritären staatssozialistischen Polizei noch der Verwilderung des gesellschaftlichen Lebens seit 1990 in demokratischer Weise irgend etwas entgegenzusetzen wussten. Wie sich der Fall der vergewaltigten 21-jährigen Frau und dessen öffentliche Beurteilung nach der ersten Empörung weiterentwickeln werden, bleibt abzuwarten. Schon vermeldete der Rechtsbeistand der Polizisten, dass ihm die Beschreibung des Tathergangs durch das Opfer nicht »lebensecht« erscheine. Ein Polizeiexperte für sexuelle Gewalt hatte schon vor einigen Monaten gegenüber Amnesty International erklärt: »Was wollen sie mit diesen Schicksen, die hier eingeliefert werden, und behaupten, dass sie vergewaltigt wurden? 85 Prozent von denen sind Huren. Die wollten ficken, und dabei ist es zu Differenzen über die Gegenleistung gekommen. Wir Fachleute wissen das.« Und: »Das Triebleben der Männer kennt keine Grenzen, so ist es natürlich, das ist wegen der Arterhaltung so«. Der Polizeioffizier meinte auch, dass ein Sexualdelikt, besonders wenn es von einer Gruppe begangen wurde, nicht zu beweisen wäre. Außerdem, so fügte er schmunzelnd hinzu, hätte er selber seine Frau schon mindestens fünf Mal vergewaltigt, weil es in guten Ehen eben so zugehe. Von seiner Entlassung hat man bis jetzt noch nichts gehört.
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