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Lauter Schläfer

Alle hängen an der Quasselstrippe: »Cry Baby« von René Pollesch am Deutschen Theater Berlin

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Gelobt sei der Schmelz eines guten Popsongs: Denn mehr Totalopposition gegen die Wirklichkeit geht nicht. Etwa Roy Orbisons »Crying«. Dazu die ornamentale, rot ausgeschlagene Pracht der Seitenportale und -logen im Deutschen Theater, an diesem Abend in die Bühne hinein verdoppelt, und hinten ein hoher, kitschig geblümter Vorhang - darunter ein breites Bett.

Und viele Frauenleiber darauf, und ein Ächzen, und eine gähnende Sehnsucht nach dem Wesentlichen, dem Schlaf. Er ist, wie wir sogleich vernehmen, die schönste Methode zur »passiven und gleichsam gefühllosen Betrachtung der Welt«. Was einen Herrn oben in der Bühnenloge zur Bemerkung veranlasst: »Weckt mich doch bitte jemand, wenn der Abend anfängt.« Was denn, er läuft schon? »Dann weckt mich doch bitte, wenn er vorbei ist.«

Er ist schnell, dieser Abend - und schnell vorbei. Siebzig Minuten René Pollesch, »Cry Baby« am Deutschen Theater (Bühne: Barbara Steiner, Kostüme: Tabea Braun). Der Einstand des Regisseurs und von Sophie Rois in der Schumannstraße 13e a. Volksbühne war gestern. So traurig das bleibt: Das Leben geht frisch und fröhlich weiter, so einfach ist das. Auch wieder ein Beispiel, was Aufregungen noch wert sind, wenn die Zeit nur ein paar Sekunden drüber weg ging.

Frisch und fröhlich, genau so ist das. Sophie Rois, assistiert von Judith Hofmann und Christine Groß und Bernd Moss sowie einem Chor aus zwölf Schauspielstudentinnen: Pollesch-Sätze als Phrasen-Geschosse, die pausenlos abgefeuert werden und steuerlos herumjagen. Eine Welt, die sich durch eine Überproduktion von Diskursen mundtot machte, besitzt in diesem Autor und Regisseur einen perlenden Resteverwerter des reflektierenden Geplappers. Damit erfasst Pollesch verblüffend klar und komisch den medialen Selbsterregungsmechanismus unserer Gesellschaft, die alles hernimmt, um es in Palaver und »Projekten« zu vernichten. Nicht der Schein trügt, sondern jenes Sein, das in unzähligen Spielarten des Scheins schließlich verkümmert.

Man spielt herzzerreißend locker und leicht und mimt Verzweiflung; man zetert, wirft sich in Pose, aufs Bett oder auf den Boden, debattiert sich wie hochgedrehtes Motorenwerk durchs absurd lose Geschehen. Geschehen ist schon zu viel gesagt. Eher wird bei Pollesch der Essay zum Clownsauftritt verführt. Aber freilich geht es ums Eingemachte, das uns täglich, stündlich bewegt. Etwa, was überschäumendes Schöpfertum sei: »die Legitimation des durch Beziehungslosigkeit brutalisierten Einzelnen.« Oder was künstlerischer Arbeit vorausgehen muss: »die Bereitschaft, sich der Versuchung zur Expression eines immer nur phantasmatischen Innen zu entziehen.« Und was ist - o drängende Frage - eigentlich aus der »oft mit Tatenlosigkeit gleichgesetzten Stabilität geworden«?

Gedanken anknabbern, nennt das der Pollesch-Abend. Der durchgehend bunte Seidenpyjamas trägt (»das erzählt ja auch niemandem mehr was: sich umzuziehen fürs Bett«). Der über Liebhabertheater, über Geld, über Genies und Leistungsdruck parliert (»vor den Drangsalen von Erfolg und Misserfolg ist man nur geschützt, wenn man mehr hat als sich selbst«). Sophie Rois, im weißen Knitterschlabber-Nachthemd der Büßer und Gespenster, deklamiert Hamlet und den Prinzen von Homburg; vor diesem pflanzt sich der Chor als Erschießungskommando auf, was zur sofortigen Sprachkorrektur führt: »Erschießungsteam«.

Ein Fechtduell und immer wieder Sprünge aufs Bett - alle hängen an der Quasselstrippe. Es gibt keine Figuren, sondern nur Mundwerke. Dramatik quasi der Nach-Zeit: Für Pollesch ist sie vorbei, die lange Ära der psychologischen Grabungen und Weltkern-Freilegungen, die das Theater zum Ort der Klärung erheben, Schauspieler in den Botschafterstand des Guten und Wahren setzen, die mit ihrem Virtuosentum der Einfühlung doch nur emotionale Erpressung betreiben. Theater pendelt hier zwischen mechanisch abgespulter Dauertalkshow und nachgespieltem Soap-Eifer; es ist, als laufe auf der Bühne ein schier unaufhörlicher Raubkopie-Mix des gesellschaftlichen Geräuschrummels ab, der die Phrasen so leidenschaftlich drischt, wie er sie liebkost.

»Mich interessiert das Theater mehr als die Veränderung der Welt,« wirft uns die Rois hin. Ein Satz von Brecht. Der ja »auch nur ein antriebsloser Loser« war. Es gab Zeiten, da hätte man sich gegen so eine Aussage gewehrt. Jetzt tut sie auch mal gut. Im Stress der anwachsenden Kampfgesänge draußen. Im Lodern der politischen Brandfackeln. Im Labern der politischen Rezeptehändler auf allen Seiten. Erstes, zweites, drittes, viertes Reich? Allen, denen »ihr eigenes Zeitalter nicht länger greifbar ist, brauchen die altertümlich wilden Zeiten als Gleichnis für die gegenwärtigen.«

In der Wirrnis des öffentlichen Denkens legt Pollesch einen Unmut frei, der sich aber mit lustvoller Eleganz lächerlich macht, um überhaupt noch ernstgenommen zu werden. Freude an der Luftigkeit just in stickigster Weltatmosphäre! Der Ernst liebt es, auf der Kippe zu spazieren, dort, wo man sich als Zuschauer freilich bei dem peinlichen Gedanken ertappt, vielleicht nur auf eine Scharlatanerie hereinzufallen. Aber man muss an diesem Abend zu oft lachen und lächeln, um sich mit den Nebensächlichkeiten des intellektuellen Mitvollzugs zu beschäftigen.

Die Rois! Wie ein tolles Huhn kann sie ihren Kopf in die leichte Schräge versetzen, von wo aus sie ruckartig ihre Worte in die Welt hackt. Sie hackt oder huscht. Die Zartheit röhrt; und handelte die Rois mit Stacheldraht, sie würde jedes Stück verkaufen, als sei es eine Federboa. Sie kann beim Reden gleichsam singen. Hell und ölig. Hexe und Engel. Sie ist bissig, aber beißt nur immer so weit zu, als sie sich jede Chose auf der Zunge zergehen lassen kann. Wenn sie vom Schlafen träumt, taucht sie ihre Gesichtszüge in eine graue, faltige, geradezu ansteckende Müdigkeit - strafft sie sich aber zur tonvollen Rezitation, ist sie von einem Adel umstrahlt, der beides zugleich ist: voller Ton und Parodie des hohl Tönernen.

Das Spiel, jonglierend mit Luis Bunuel und Hugo von Hofmannsthal, mit Theodor W. Adorno und Ingeborg Bachmann - es treibt den überall so eifernden, schürfenden Feuille-Ton ins selbstironische Kichern. Bei Pollesch balanciert der bedeutungstolle Debattenmodernismus kühn über Seile, mit Augenzwinkern: Diese Seile liegen allesamt am Boden. Pointiert wird mit einem Intellektualismus abgerechnet, der stets meint, auf der wahren, guten Seite der Deutungstechniken zu stehen. Alles und alle: nur Theater. Das Theater natürlich auch: nur Theater. Der Traum, einander schweigend zu verstehen, plappert sich immer wieder müde. So entsteht ein Gedankengebäude, das von Gedankentrümmern kaum zu unterscheiden ist. Auf den Bühnen und bei den politischen Bewegungsmeldern draußen.

Wie findet man aus Rollenspiel ins wirkliche Leben? Oder ist das wirkliche Leben das eigentliche Rollenspiel? Wie verhält sich die Idiotie, Identität zu behaupten, zur Idiotie, sie sich ständig beschädigen zu lassen? Der Chor zückt kleine Beutel, die Tränen verspritzen. Sind sie die Folge von Weinen oder von Lachen? Nur was zum Heulen ist, hat Witz.

Polleschs Weisheit, das ist ein Nichtwissen, wie man sich aus der Welt herauswinden kann - als bestes Zeichen, wie sehr man mit ihren Verhältnissen vertraut ist. Und stille steht. Subversiver geht's nicht. Das macht dem Theater - auch wenn es an diesem Abend nur eine Petitesse ist - alle Ehre, denn: Es ist unser aller Elend.

Nächste Vorstellungen: 13., 21. September

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