Wie Frauen zweifach Opfer werden

Schwangeren wird auch nach einer Vergewaltigung oft der Weg zur Abtreibung erschwert

  • Julia Boving
  • Lesedauer: 4 Min.

In Deutschland sind Abtreibungen grundsätzlich rechtswidrig. Auf Grundlage der sogenannten Beratungsregel bleibt der Abbruch jedoch straffrei. Hierfür müssen die Frauen bestimmte Bedingungen erfüllen. Frau Zilezinski, warum kommen Frauen zu Ihnen in die Schwangerschaftsberatungsstelle?

In die Schwangerschaftskonfliktberatung kommen Frauen, die ungewollt schwanger wurden und eine Abtreibung vornehmen wollen. In Deutschland können Frauen nur innerhalb der ersten zwölf Wochen und unter bestimmten Voraussetzungen abtreiben. Die Beratung bei uns ist gesetzlich vorgeschrieben. Im Anschluss an diese erstellen wir für die Frauen einen Beratungsschein. Dieser ist Voraussetzung dafür, dass die Frauen »straffrei« abtreiben dürfen. Ohne die Bescheinigung wird keine Ärztin und kein Arzt einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen.

Zur Person
Martina Zilezinski ist Sozialpädagogin und arbeitet bei der Beratungsstelle Balance in Lichtenberg. Neben sexueller Aufklärung und Unterstützung für Familien berät sie auch Frauen im Hinblick auf eine Abtreibung. Am kommenden Montag organisiert Balance ein Treffen mit Ärzt*innen zum Thema kriminelle Indikation. In einem Gespräch mit Julia Boving erklärt sie, was damit gemeint ist und wie wichtig das Thema ist.

Gibt es auch Ausnahmefälle, in denen Frauen nicht zu Ihnen kommen und eine Bescheinigung holen müssen?

Ja, die gibt es auch. Wenn Frauen vergewaltigt und durch den Missbrauch schwanger wurden, brauchen sie keinen Beratungsschein von uns. Es reicht dann aus, sich einer Gynäkologin anzuvertrauen, die in einem Schreiben versichert, dass die Frau Opfer sexueller Gewalt wurde. Dieses erstellte Gutachten nennt sich »kriminologische Indikation« und reicht aus, damit Ärzt*innen eine Abtreibung vornehmen dürfen. In diesen Fällen übernimmt auch die Krankenkasse die Kosten für den Abbruch. Doch leider passiert das in der Praxis nicht.

Am Montag findet in Ihrer Beratungsstelle ein Gespräch zum Thema kriminologische Indikation statt. Wie sind Sie darauf gekommen?

Wir hatten im letzten Jahr acht Frauen in der Beratung, die berichteten, dass sie unter dem Einfluss von K.-o.-Tropfen vergewaltigt und anschließend schwanger wurden. Wir wunderten uns, weil die Frauen eigentlich gar nicht hätten zu uns kommen müssen, um abtreiben zu können. Darüber hinaus berichteten sie uns, dass sie durchaus mit ihren Gynäkolog*innen über die Vergewaltigung gesprochen hatten. Diese verwiesen die Frauen wiederum an die Beratungsstellen. Normalerweise hätte den Frauen der zusätzliche Weg über die Beratung mit dem Gutachten über den sexuellen Missbrauch erspart bleiben müssen und die Krankenkasse hätte die Kosten für den Abbruch übernehmen müssen.

Warum stellen die Ärzt*innen Ihrer Meinung nach keine Gutachten für Frauen aus, die Opfer sexueller Gewalt wurden?

Einerseits glauben wir, dass den Ärzt*innen wichtige Informationen fehlen und eine große Unsicherheit darüber herrscht, wann und wie mit Schwangerschaften nach sexuellem Missbrauch umzugehen ist. Der zweite Punkt ist - und jetzt kommt’s: Im Falle einer kriminologischen Indikation, in der die Krankenkasse die Kosten übernimmt, können die Ärzt*innen, die den Abbruch machen, deutlich weniger abrechnen als mit einer Bescheinigung von uns. Der Unterschied liegt bei bis zu 300 Euro weniger pro Abtreibung. Von den circa 110 Euro, die von der Krankenkasse bezahlt werden, kann das benötige Personal für eine Abtreibung gar nicht bezahlt werden. Es ist also deutlich weniger lukrativ für die Praxen ein Gutachten zu erstellen, als die Frauen zu uns in die Beratung zu schicken.

Somit werden Frauen, die bereits Opfer sexueller Gewalt wurden und darunter leiden, auch zu Opfern struktureller Gewalt. Was bedeutet das für die betroffenen Frauen?

Für die Frauen wäre das Gutachten in der Situation natürlich sehr, sehr wichtig. Es würde den Prozess bis hin zur Vornahme des Schwangerschaftsabbruchs immens erleichtern. Aber de facto kommt es leider gar nicht vor, dass Frauen, die Opfer sexueller Gewalt wurden, eine kriminologische Indikation ausgestellt wird. Stattdessen werden sie von den Praxen zu den Beratungsstellen geschickt. Hier durchlaufen sie dann den ganz normalen Prozess einer ungewollten Schwangerschaft. Die Krönung dieses Skandals ist es, dass eine Frau, die über der Einkommensgrenze verdient und Opfer sexueller Gewalt wurde, die Abtreibung so aus eigener Tasche bezahlen muss. Normalerweise sollte hier die Krankenkasse die Kosten tragen.

Auch vor dem Hintergrund sexueller Gewalt sprechen sich sogenannte Lebensschützer*innen für ein komplettes Abtreibungsverbot aus. Am Samstag findet in Berlin wieder der »Marsch für das Leben« statt. Was halten Sie von den Argumenten der Abtreibungsgegner*innen?

Zunächst finde ich es schrecklich, wie die selbst ernannten »Lebensschützer*innen« Menschen mit Behinderungen instrumentalisieren. Denn von keiner Frau, die eine Abtreibung vornimmt, wird das Recht auf Leben angezweifelt. Aber Frauen werden nun mal ungewollt schwanger, auch weil kein Verhütungsmittel hundertprozentig sicher ist. Da ist es umso wichtiger, dass sie unter guten medizinischen Bedingungen und möglichst niedrigschwellig die Schwangerschaft beenden können. Die Argumentation der »Lebensschützer*innen« für die gänzliche Abschaffung von Abtreibung führt uns zurück ins Mittelalter. Und für Frauen, die nach einer Vergewaltigung schwanger wurden, ist das ein Schlag ins Gesicht. Meine Kolleg*innen und ich wollen uns für Frauen einsetzen, die zu Opfern von Willkür und Gewalt wurden. Es kann nicht sein, dass ihnen sexuelle Gewalt wiederfährt und sie zusätzlich noch zu Opfern der Politik und des Gesundheitssystems werden.

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