nd-aktuell.de / 06.10.2018 / Kultur / Seite 22

Das Jenseits ins Diesseits verlagert

Menschen investieren zu viel Zeit, dem Unausweichlichen zu entkommen. Von Wolfgang M. Schmitt

Wolfgang M. Schmitt

Die im vergangenen Jahr verstorbene Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen erzählt in ihrem wunderbaren Buch »Älter werden« eine unsere Zeit treffend charakterisierende Anekdote: Im Sommer ging Bovenschen täglich ins Freibad, zur Saisoneröffnung bilanzierten die Stammgäste stets die Todesfälle aus dem Winter. »Sofort wurde nach Anzeichen eines jeweiligen Eigenverschuldens gesucht. ›Sie war ja auch sehr dick.‹, ›Er hat ja auch sehr viel geraucht.‹ Einmal aber schien es, als ließe sich kein solches Verschulden bei dem Gestorbenen finden. Die Badefreude kam aber dann doch wieder auf, als einer schließlich ausrief: ›Er ist ja auch immer so schnell geschwommen‹«.

Dass der Tod einfach eintritt, plötzlich und ohne Eigenverschulden, dass an dem Kalauer, wonach das Leben tödlich endet, etwas dran ist, wird in unserer Gesellschaft gerne übersehen. Es passt einfach nicht in den ideologischen Rahmen der Selbstoptimierung: Wer sich immer redlich bemüht, viel Sport treibt, gesund isst und alle vom Arzt angebotenen und meist vom Patienten selbst zu zahlenden Vorsorgeuntersuchungen über sich ergehen lässt, scheint nicht sterben zu müssen. Das suggerieren zumindest diverse Industriezweige und Lobbygruppen.

Es liegt an einem selbst, was umgekehrt bedeutet: Wer krankt wird, ist selbst schuld. Ein Paradigma, dass man auch aus ökonomischen Zusammenhängen kennt, wenn der, der arbeitslos bleibt, als faul oder unwillig diskreditiert wird, und wenn man demjenigen, der wenig verdient, sagt, er müsse sich eben mehr anstrengen. Hier ist jeder seines beruflichen Glückes Schmied, wie auch jeder für sein Ableben selbst verantwortlich gemacht werden kann. Digitale Fitnessarmbänder, mit denen sich der Körper überwachen lässt, suggerieren Kontrolle, und werden von Ärzten und vor allem Krankenkassen inzwischen empfohlen. Dabei ist der Körper viel zu komplex und unberechenbar - er ist keine Maschine, sondern ein lebendiger Organismus. Die Natur, zu der er zweifellos gehört, ist nicht wohlgeordnet - oder wie der sprechende Fuchs in Lars von Triers Meisterwerk »Antichrist« sagt: »Chaos herrscht.« Dennoch kennt die (Selbst-)Optimierung keine Grenzen, auch keine biologischen, so liest man in Todesanzeigen immer seltener die Formulierung »nach einem langen und erfüllten Leben«, sondern noch bei 90-Jährigen heißt es mitunter »plötzlich und unerwartet«.

Künstler haderten schon immer mit der Endlichkeit, weshalb sie sich durch ihre Werke zu verewigen suchen. Für den im Juni verstorbenen Regisseur Claude Lanzmann war der Tod »ein Skandal«, sein Kollege Woody Allen sagt, seine Haltung gegenüber dem Tod habe sich nicht geändert: er sei nach wie vor dagegen, und der immerhin erst mit 89 Jahren verschiedene Literaturnobelpreisträger Elias Canetti hasste den Tod leidenschaftlich. »Es ist um jeden schade«, schrieb Canetti 1951: »Niemand hätte je sterben dürfen.« Auch wenn Künstler solche Proteste mit viel Verve vortragen, sollte nicht vergessen werden, dass es erst die unaufhörlich verrinnende Zeit ist, die Künstler, aber auch alle anderen, antreibt, überhaupt irgendetwas zu tun. Wer ewig lebt, kann immer bis morgen warten. Während aufgrund des sicheren Endes Lanzmann und Canetti überaus produktiv waren, und Allen es noch immer ist, scheinen viele Menschen heute zwar auch ungeheuer aktiv zu sein, jedoch besonders, was gesundheitsverlängernde und medizinische Maßnahmen anbelangt. »Wir würden alle gerne länger und gesünder leben; die Frage ist, wie viel von unserem Leben wir diesem Projekt widmen sollen - schließlich haben wir alle, oder wenigstens die meistens von uns, oft noch wichtigere Dinge zu tun«, schreibt die Journalistin Barbara Ehrenreich in ihrem provokativ fragenden Buch »Wollen wir ewig leben?«. Ehrenreich spricht aus Erfahrung: Vor 18 Jahren wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert, sie ließ sich behandeln, bekämpfte den Krebs, ging danach artig zu allen möglichen Krebsvorsorgeuntersuchungen, bis die heute 77-Jährige vor einigen Jahren einfach damit aufhörte. Wenn sie jetzt sterben sollte, dann akzeptiere sie das, aber sie habe keine Lust und keine Zeit mehr, sich Arzttermine zu organisieren, in Wartezimmern zu sitzen und auf gute Testergebnisse zu hoffen. »Als ich erkannte, dass ich alt genug zum Sterben war, beschloss ich, dass ich auch alt genug war, um für ein längeres Leben nicht mehr Leiden, Verdruss und Langeweile auf mich zu nehmen.«

Die Booms der medizinischen Vorsorgen, der Wellness-, Fitness- und Gesundheitsindustrien könnte man leicht damit erklären, dass wir heute in postreligiösen Zeiten leben. Davor ging man fest davon aus, der Ewigkeit entgegenzugehen. Es machte nichts aus, ein Jahr früher oder später abzutreten. Doch sollte nicht übersehen werden, dass die Religionen, vor allem die christliche, zwar an Bedeutung eingebüßt haben, wir aber dennoch keineswegs in einer atheistischen Gegenwart leben. Religiöse Rituale und Liturgien haben sich nur gewandelt und finden sich heute in Wellness- und Fitnesstempeln, deren angebliche »Philosophie« in der Regel eine Theologie mit viel Hokuspokus ist, und in den nur scheinbar fest auf dem Fundament der Aufklärung stehenden Arztpraxen und Krankenhäusern wieder. Barbara Ehrenreich spricht von »Ritualen der Demütigung«, zelebriert von den Göttern in Weiß, denen sich die Patienten unwidersprochen, wie fromme Lämmer hingeben müssen.

Ehrenreich lehnt nicht die moderne Medizin ab, sie ist alles andere als eine Esoterikerin, aber sie weist auf blinde Flecken hin: Oft gehen Wissenschaft und Medizin getrennte Wege - so seien viele Screenings, um Brustkrebs frühzeitig zu erkennen, kontraproduktiv. Die promovierte Biologin verweist auf empirische Studien. Auch seien Prostatakrebsbehandlungen mit Vorsicht zu genießen: »Einer aktuellen Studie zufolge wird fast die Hälfte der Männer über 66, die wegen Prostatakrebs behandelt werden, wahrscheinlich gar nicht so lange leben, dass der Krebs Probleme macht. Sie werden jedoch lange genug leben, um unter den Nebenwirkungen der Behandlung zu leiden.«

Ehrenreich erinnert in ihrem Buch an die Frauenbewegung und die Forderung »Mein Körper gehört mir«. Diese Botschaft müsse man auch gegenüber einer übergriffigen und auf Profit ausgerichteten Medizin geltend machen. Doch bislang funktioniert die Lobbyarbeit gut, zudem kreieren Ärzte schon mit in Endlosschleife laufenden Videos im Wartezimmer Horrorszenarien, die der Patient um jeden Preis für sich verhindern will. Es ist wie früher in der Kirche: Wer nicht folgt, der kommt in die Hölle - heute heißt es: der stirbt. Insofern leben wir nicht in einer diesseitigen Gesellschaft, vielmehr hat man das Jenseits ins Diesseits verlagert. Indem wir uns dauernd damit beschäftigen, dem Tod zu entkommen, wir am eigenen Körper pseudo-religiöse Reinigungsrituale vollführen, räumen wir ihm in unserem Leben einen übergroßen Platz ein. Weil wir nicht sterben wollen, vergessen wir zu leben.

Barbara Ehrenreich: »Wollen wir ewig leben? Die Wellness-Epedemie, die Gewissheit des Todes und unsere Illusion von Kontrolle«, Kunstmann, 254 Seiten, 22 Euro.