• Politik
  • Prozess gegen Braunschweiger in Ankara

Aus dem Ferienhaus geholt

Hüseyin M. wurde in der Türkei von einer Antiterroreinheit festgenommen - nachdem er denunziert worden war

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 4 Min.

Der «Welt»-Korrespondent Deniz Yücel musste mehr als ein Jahr auf seine Anklageschrift warten, noch länger dauerte es, bis der Prozess gegen ihn begann. Bei Hüseyin M. ging dagegen alles ganz schnell: Ende August wurde der Braunschweiger während eines Ferienaufenthaltes in der Nähe der westtürkischen Stadt Izmir festgenommen. Schon am Donnerstag soll in Ankara der Prozess gegen ihn beginnen.

Ähnlich rasant war schon gegen den Hamburger Taxifahrer Ilhami A. vorgegangen worden, der ebenfalls im August verhaftet und bereits Mitte September in Elazığ zu mehr als drei Jahren Haft verurteilt wurde. In beiden Fällen geht es um angebliche regierungskritische Äußerungen auf der Social-Media-Plattform Facebook, die jedoch von den Beschuldigten bestritten werden. Dem Braunschweiger Hüseyin M. wird dabei offenbar vorgeworfen, 2014 und 2015 den heutigen Staatspräsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, der bis Sommer 2014 Ministerpräsident war, als «Diktator» und «Kindermörder» bezeichnet zu haben. Einem Bericht des «Spiegels» zufolge, der Anfang Oktober zuerst über den Fall berichtete, hatte ein Unbekannter den Anfang 40-jährigen Hüseyin M. per E-Mail gegenüber den türkischen Behörden angeschwärzt. Seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 häufen sich die Berichte über solche Fälle von Denunziation.

Im Fall von Hüseyin M. hatte das dramatische Folgen: Laut «Spiegel» holte eine Antiterroreinheit der türkischen Polizei den Mann in der Nacht vom 24. auf den 25. August «aus dem Ferienhaus seiner Schwiegereltern, etwa 100 Kilometer südlich von Izmir». Die westtürkische Ägäisküste ist keine AKP-Hochburg - im Gegenteil, in der traditionell kemalistischen Gegend wurde auch bei den Wahlen im Juni dieses Jahres wieder mehrheitlich für die CHP gestimmt.

Nachdem die Antiterroreinheit ihn mitgenommen hatte, wurde Hüseyin M. der «Spiegel»-Recherche zufolge innerhalb von zwei Tagen zweimal freigelassen - und zweimal im Ferienhaus seiner Schwiegereltern wieder festgenommen. Die Geschichte liest sich wie eine groteske Justizposse. M. soll demnach am Tag nach der ersten nächtlichen Festnahme von einem Staatsanwalt vernommen und später einer Haftrichterin vorgeführt worden sein - die ihn laufen ließ. Am Abend desselben Tages sei Hüseyin M. jedoch wieder festgenommen worden. Der Staatsanwalt habe Widerspruch gegen die Entscheidung der Haftrichterin eingelegt. Erneut erließ die Haftrichterin aber keinen Haftbefehl. Nach der dritten Festnahme am Tag darauf sei schließlich ein Haftbefehl erlassen worden. Seitdem sitzt Hüseyin M. in Untersuchungshaft.

Das Auswärtige Amt bestätigte gegenüber «nd», dass «der genannte Fall bekannt» sei. Eine Regierungssprecherin antwortete zudem auf die Frage, ob Hüseyin M. Thema während des Staatsbesuches von Erdoğan in der vorvergangenen Woche gewesen sei, Angela Merkel habe die Fälle der «deutschen Staatsangehörigen, die in der Türkei unter rechtsstaatlich zweifelhaften Gründen in Haft gekommen sind oder in anderer Weise mit strafrechtlichen Verfahren belangt wurden» bei ihrem Gespräch mit dem türkischen Präsidenten «unmittelbar angesprochen und auf eine schnelle Lösung gedrängt». Hüseyin M. werde durch das Generalkonsulat Izmir konsularisch betreut.

Der Bruder von Hüseyin M., Deniz M., hatte am vergangenen Samstag im Interview mit der «Braunschweiger Zeitung» erklärt, die Familie habe sich Hilfe suchend auch an Sigmar Gabriel (SPD) gewandt. «Wir haben auch Ex-Außenminister Sigmar Gabriel eingeschaltet. Er hat seine Kontakte zum türkischen Staat bereits genutzt», so Deniz M. In dieser Deutlichkeit wollte das Gabriels Mitarbeiter Andreas Rink nicht bestätigen. Allerdings habe sich, so Rink, die Ehefrau von Hüseyin M. unter anderem an Gabriel gewandt. Daraufhin habe der Bundestagsabgeordnete «versucht, über seine Kanäle im Hintergrund etwas zu erwirken». Weiterführende Informationen zu dem Fall habe man allerdings nicht.

Sollte in dem Prozess ein Urteil gegen Hüseyin M. gesprochen werden, so drohen dem Mann bis zu vier Jahre Haft. Den Straftatbestand «Präsidentenbeleidigung» gibt es in der Türkei schon lange. Seit Erdoğan das Amt innehat, stieg allerdings die Zahl der eingeleiteten Verfahren sprunghaft an. Allein in den ersten anderthalb Jahren der Präsidentschaft Erdoğans leitete die türkische Justiz 1845 Verfahren wegen «Präsidentenbeleidigung» ein. Mehr als in den 14 Amtsjahren seiner Vorgänger Ahmet Necdet Sezer und Abdullah Gül zusammen.

So oder so bestreitet Hüseyin M. die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Sein Bruder bezeichnete sie als «absurd». Er habe «die Anklageschrift in türkischer Sprache gelesen». Sein Bruder habe Erdoğan nie beleidigt. «Das macht man nicht», so Deniz M. «Wir haben doch alle gesehen, wie der türkische Staat reagiert hat in den vergangenen Jahren, wie er gegen Andersdenkende und Kritiker vorgegangen ist.» Die Haft bedrohe, so Deniz M. weiter, mittlerweile auch um die wirtschaftliche Existenz seines Bruder. «Wir haben Angst, dass er seinen Job verlieren könnte».

Ein Sprecher der Stadt Braunschweig erklärte auf Anfrage des «nd», die Stadt habe «keine Kenntnisse über den Fall und die näheren Hintergründe» und könne ihn «nicht öffentlich kommentieren». Zuständig sei das Auswärtige Amt. «Die Stadt Braunschweig, »in der die Familie von Hüseyin M. seit Kurzem wohnt« sei nicht involviert.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal