Alles im Fluss

Entdeckung der Langsamkeit im UNESCO-Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe.

  • Beate Schümann
  • Lesedauer: 7 Min.

Als Erstes läuft man zum Deich, um zu schauen, ob die Elbe noch da ist. Tatsächlich, da fließt sie. Tief Luft holen und durchatmen. Seelenruhig windet sich der breite Fluss an Silberweiden vorbei, passiert unbeeindruckt die Stromtalwiese mit den watenden Weißstörchen und biegt bei Klein Wootz gelassen in die nächste Schleife.

Mehr Sensationen sind am Elbufer erst einmal nicht auszumachen. Doch mehr will der Mensch auch gar nicht. Auf der Deichkrone setzt er sich auf eine Holzbank und betrachtet das ruhige Strömen des Flusses. Das meditative Tempo steckt an. Schnell muss hier gar nichts mehr gehen. Das sehen die Wanderer und Fahrradfahrer am Deich auch so. Ein Mann mit Schiebermütze radelt sachte vorbei und grüßt: «Tach». Wie gemütlich das klingt.

Die Elbe ist Deutschlands drittgrößter Strom und einer der letzten naturnahen Flüsse Mitteleuropas. Auf einer Länge von 400 Flusskilometern und einer Fläche von rund 282 250 Hektar erstreckt sich das UNESCO-Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe durch fünf Bundesländer. Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein haben sich verpflichtet, die Elbtalauen zu bewahren. «Das ist ein großartiges Projekt für die Natur und für Großstadtflüchtlinge», sagt Robert Sommerfeld, der Naturführer im brandenburgischen Teil ist. Er liebt den weiten Blick über Fluss und Felder, das Geschnatter ziehender Wildgänse und Dörfer, die nicht mehr als zwanzig Einwohner haben. Wie in der Gemeinde Lenzerwische, wo sie Unbesandten, Kietz oder Mödlich heißen. Die Fachwerkhäuser sind mit Reet gedeckt, umgeben von üppigen Gärten und Streuobstwiesen. Fette Marsch, reiche Bauern. Vor manchen Gärten stehen Tische mit selbstgemachter Marmelade, Obst oder Honig und eine Kasse des Vertrauens.

Der Mann mit dem Vollbart und der gelben Pudelmütze nimmt die zehn Gäste aus der Stadt mit auf eine Safari ins Feuchtgebiet zwischen Elbe und Löcknitz. In den ursprünglichen Auen, die von der natürlichen Dynamik des Flusses und Überschwemmungen gestaltet werden, lässt sich ablesen, wie die Landschaft vor Tausenden von Jahren ihre charakteristische Gestalt erhielt. «Das war eine coole Zeit», sagt Sommerfeld. Er schmunzelt, denn er meint die letzte Eiszeit und geht gedanklich 18 000 Jahre zurück. Im Bereich der Lenzerwische sind die Überreste besonders gut ablesbar. Damals war alles von Eismassen bedeckt, bis der Gletscher stoppte, Sande sich an den Endmoränen ablagerten, Lebensräume für Pflanzen und Tiere entstanden. «Zuerst entwickeln sich Kräuter, Gräser, dann Silberweiden, Schwarzpappeln sowie Stieleichen und schließlich Kibitz und Wachtelkönig», erklärt der Naturführer. Die Natur habe fantastische Strategien. Die Eiche hält Hochwasser bis zu hundert Tagen aus. Die Weide dagegen legt sich hin, wartet ab und schlägt Wurzeln, wenn die Flut weg ist.

Vor nicht einmal zwanzig Jahren sah es in der dünn besiedelten Gegend noch völlig anders aus. Hohe Deiche, Rodung und landwirtschaftliche Nutzung hatten das Urstromtal verdrängt. Erst das Deichrückverlegungsprogramm von 2002 gab dem Fluss die Auwälder und ihr ursprüngliches Wesen zurück. Seeadler, Singschwäne, Weißstorch und Fischotter haben sich wieder angesiedelt, auch gefährdete Wiesenpflanzen wie Gottesgnadenkraut oder Kartäusernelke.

Verkehr ist auf der Wasserstraße selten zu beobachten. Dass der Fluss auch eine gefährliche Seite haben kann, zeigt bei Mödlich eine Eisenskulptur des Künstlers Bernd Streiter. Seine Vision vom Fährmann der Unterwelt erscheint aber nicht erschreckend, sondern würdevoll, fast priesterhaft. Er nimmt einem fast die Angst vor der Überfahrt. Bei Lenzen, ein paar Kilometer weiter, könnte man dann mit der Fähre unbesorgt zum niedersächsischen Flussufer übersetzen.

Überhaupt sieht es idyllisch und friedlich im Biosphärenreservat aus. Fast vergessen ist das Grenzland, das Landschaft und Fluss bis 1990 zerschnitt. Der «Eiserne Vorhang» hielt aber nicht nur Menschen, sondern auch Entwicklung weiträumig fern, so dass sich eine der prächtigsten Stromtallandschaften ungestört erhalten konnte. Im Niemandsland der 1378 Kilometer langen deutsch-deutschen Grenze hatte die Natur vierzig Jahre lang ein freies Feld. Der Kolonnenweg, auf dem DDR-Grenzer einst patrouillierten, wird als Friedenslinie, Elberadweg und für das Naturräume verbindende «Grüne Band» genutzt.

Um Grenzen hat sich die Elbe nie geschert. Der alte Wachturm, den man kurz vor der Burgstadt Lenzen besteigen kann, erinnert noch an die alte Geschichte. «Nirgendwo sonst in der Welt spielt es eine so entscheidende Rolle, ob man hundert Meter weiter rechts oder links geboren wird», schrieb einmal die Publizistin Marion Gräfin Dönhoff (1909-2002).

Nur wenige Schritte weiter kommt man zum Qualmwassersteg, den das Biosphärenreservat angelegt hat. Qualmt es hier etwa? Man muss schon abenteuerlich über die Holzpfähle im Wasser bis zur Plattform balancieren, um des Rätsels Lösung zu erfahren. Auf der Infotafel steht: Ja, es «qualmt» bei Hochwasser und hohem Wasserdruck auf den Deich. Dann brodelt die im Boden eingelagerte Luft an die Oberfläche. Der Lebensraum beherbergt eine Fülle von bedrohten Amphibien, in dem man unkenden Rufen lauschen und den Frühjahrskiemenfuß, einen urzeitlichen Krebs, auf der Oberfläche schweben sehen kann.

Lenzen ist ein idyllisches Fachwerkstädtchen, das ganz von seiner Burg beherrscht wird. Hinter den Mauern, die sich malerisch über der Elbtalaue erheben, ist das BUND-Besucherzentrum untergebracht, das über das Biosphärenreservat informiert, naturkundliche und kulturhistorische Führungen und Exkursionen organisiert. Im weitläufigen Park liegt der Burg zwischen Baumriesen und Flussläufen das «AuenReich» zu Füßen, das am 6. Mai 2018 eröffnet wurde. Zum neuen Erlebnisgelände im Burgpark gehören eine Baumhängebrücke, ein festvertäutes Holzfloß als Beobachtungsposten sowie vier weitere interaktive Stationen. Begehrt sind die beiden Holzliegen, auf denen man relaxt das Ohr an einen großen Hörtrichter legen und den Takten der Auensinfonie lauschen kann.

Am Anleger an der Löcknitz bricht eine Gruppe zur Kanutour «Auf den Spuren des Eisvogels» auf. «Löcknitz heißt auf slawisch »Seerose«, erklärt Heiko Bölk, der stellvertretende Leiter des Besucherzentrums, den Ursprung des Namens. An Seerosen herrscht tatsächlich kein Mangel. Kaum haben die drei Großkanadier die Seetorbrücke unterfahren, tauchen riesige Felder mit weißen Wasserlilien auf. »Der Eisvogel ist schwerer zu finden«, wiegelt der Ranger ab. Das erhöht die Spannung.

Am Ufer sind Biberrutschen zu erkennen. Reiher fliegen auf, Gänse ziehen vorbei, aber kein Eisvogel. »Für wann haben Sie ihn denn bestellt«, fragt einer der Kanuten. Alle lachen. Für den schönen stahlblauen Flieger gibt es keine Garantie, aber er kenne ihre Bruthöhlen. Lange war der Eisvogel bedroht. »Inzwischen haben wir wieder 35 bis 40 Brutpaare«, sagt Bölk stolz. Umgestürzte Bäume in Flussnähe, das sind ideale Habitate für ihn. Da sitzt er gern auf den Zweigspitzen und sucht den Fluss nach Fischen und Wasserinsekten ab.

»Psst«, ruft der Ranger. »Hört ihr das tschik-tschie?« Da ist er. Doch zu spät, niemand hat den blitzschnellen Minivogel gesehen. Aber kurz darauf schießt einer vorbei. Zufrieden vertäuen die Naturfreunde die Boote am Anleger des Cafés Löcknitz-Terrasse in Seedorf. Christine und Enrico Rust servieren dort an die fünfzig selbstgebackene Torten. »Vor der Wende waren die Dörfer hier so gut wie ausgestorben«, sagt Enrico Rust. Der Naturschutz habe sie wiederbelebt.

Wieder im Boot zeigt Bölk den Ehrgeiz, dem Eisvogel noch näher zu kommen. Hinter dem Dorf Baekern, wo die Löcknitz breiter wird, steuert er noch langsamer als zuvor und noch näher an die ins Wasser hängenden Äste. Und da sitzt tatsächlich einer - stahlblau bis türkis die Flügel, kastanienbraun die Brust. Alle sind glücklich. Schon kommt Lenzen wieder ins Bild. »Ist jemand noch gestresst?«, fragt Bölk die Paddler. Weniger Tempo erleben, ist für ihn der wahre Sinn der Tour.

Infos

Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe: www.elbe-brandenburg-biosphärenreservat.de

BUND-Besucherzentrum Burg Lenzen: Tel.: (038792) 1221 www.burg-lenzen.de

Café Löcknitz-Terrassen: Tel.: (038792) 7327 www.cafe-loecknitzterasse.de

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