Verbrechen an den Schwächsten

Eine Nichtregierungsorganisation hat Kinder befragt, die aus EU-Staaten nach Afghanistan »zurückgeführt« wurden

  • Jana Frielinghaus
  • Lesedauer: 5 Min.

Europäische Politiker beklagen oft und inbrünstig die desolate Menschenrechtssituation in Russland oder China. Dabei werden Grundrechte vieler Menschen auch in der EU mit Füßen getreten. Davon betroffen sind auch Minderjährige, zu deren besonderem Schutz sich die meisten Mitgliedsstaaten, unter anderem durch Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention, verpflichtet haben. Am Dienstag stellte die Organisation »Save The Children« in Berlin einen Report zur Lage von Kindern vor, die aus EU-Ländern nach Afghanistan »zurückgeführt« wurden.

Für den Bericht »Rückkehr ins Ungewisse« haben Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation (NGO) mit Unterstützung des Thinktanks »Samuel Hall« insgesamt 57 Kinder und Jugendliche in zwei afghanischen Provinzen befragt, wie Meike Riebau berichtete, Rechtsexpertin bei Save The Children und Koordinatorin der Untersuchung. Weiter wurden Interviews mit Eltern und Vormündern der Kinder sowie Vertretern von offiziellen Stellen und NGOs geführt, die mit ihren Fällen befasst waren. Die Untersuchung wurde von Save The Children veranlasst, nachdem sich mehrere verzweifelte Kinder bei einer Beratungshotline der Organisation in Schweden gemeldet hatten, deren Abschiebung unmittelbar bevorstand.

Von den befragten Kindern kamen zwei Drittel über Rückkehrprogramme mit ihren Eltern nach Afghanistan, wurden aber selbst nicht nach ihren Wünschen gefragt. Die übrigen wurden abgeschoben. Die meisten sind von Gewalt und Zwangsrekrutierung durch bewaffnete Gruppen bedroht. Mehrheitlich können sie keine Schule besuchen. Zudem hätten viele von ihnen vorher noch nie in Afghanistan gelebt, sagte Riebau. Sie seien in Flüchtlingslagern in Iran oder in Pakistan oder in EU-Staaten geboren und aufgewachsen. Als »Europäer« seien sie zudem Stigmatisierungen ausgesetzt. »Manche Leute sagen, dass die Kinder, die in Europa waren, zu Ungläubigen geworden und keine echten Moslems mehr sind«, wird im Bericht ein 19-Jähriger zitiert, der mit 16 aus Österreich zurückgeführt wurde. Drei Viertel der interviewten Kinder gaben an, sie wollten zurück nach Europa.

Save The Children fordert einen generellen Stopp von Abschiebungen nach Afghanistan. Zudem müsse das Land von der Liste jener Staaten gestrichen werden, für die Programme zur freiwilligen Rückkehr angeboten werden. Wenn Jugendliche dennoch in das Land reisen wollten, müsse gewährleistet sein, dass sie vor Ort Ansprechpartner haben, die sich zum Beispiel um Unterkunft und Ausbildung kümmerten.

Dergleichen aber, betonte Onno van Manen, Länderdirektor von Save The Children in Afghanistan, sei derzeit faktisch unmöglich. Minderjährige, die an den Hindukusch zurückkehren, hätten keinerlei Möglichkeit, »zum Aufbau eines besseren Afghanistan beizutragen«. Die heutige sei »schlimmste Zeit«, die das Land je gesehen habe, sagte van Manen. Große Gebiete seien nicht unter der Kontrolle der Regierung in Kabul, sondern würden von Taliban, Warlords und zunehmend auch von Angehörigen der Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« beherrscht. Insbesondere Schulen und Krankenstationen seien Angriffen ausgesetzt.

Das bitterarme Land habe zudem bereits mit der Integration Hunderttausender Binnenflüchtlinge zu tun. Darüber hinaus leide es unter einer langanhaltenden Dürre. Die wird nach Angaben der UN-Koordinierungsstelle für humanitäre Angelegenheiten, OCHA, noch jahrzehntelang Auswirkungen haben.

Und nein, es gebe keine sicheren Orte in Afghanistan, stellte van Manen auf die Frage eines Journalisten klar, was von der entsprechenden Lageeinschätzung der Bundesregierung zu halten sei. Susanna Krüger, Geschäftsführerin von Save the Children Deutschland, erinnerte daran, dass fast jede Woche Zivilisten bei Anschlägen sterben. Erst vor wenigen Tagen kamen durch eine Bombenexplosion während einer Wahlkampfveranstaltung im Norden des Landes mindestens 22 Menschen ums Leben.

Zur Gesamtzahl der von Abschiebungen und Rückführungen nach Afghanistan betroffenen Kinder und Jugendlichen seien keine Angaben möglich, sagte Meike Riebau auf Nachfrage von »nd«. Von den Regierungen seien dazu wenige bis gar keine Informationen herausgegeben worden. Riebau sieht die Staaten der EU hier in der Pflicht. Unter den in Afghanistan Befragten seien neun aus Deutschland gekommen. Drei von ihnen seien kurz nach ihrem 18. Geburtstag abgeschoben worden, drei als unbegleitete Minderjährige ausgereist und die übrigen zusammen mit ihren Familien.

Nach Auskunft von Riebau reisten 2017 insgesamt 1200 Personen über Programme zur sogenannten freiwilligen Rückkehr aus der Bundesrepublik nach Afghanistan aus, EU-weit waren es nach Angaben der Statistikbehörde Eurostat 4260. Wie viele Kinder unter ihnen waren, habe Save The Children nicht in Erfahrung bringen können. Riebau zufolge werden Menschen in der Bundesrepublik beispielsweise 1200 Euro pro Person angeboten, wenn sie sich schon während ihres Asylverfahrens bereit erklären, wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren. Tun sie das erst, nachdem ihr Antrag abgelehnt wurde, reduziert sich die Summe demnach auf 800 Euro.

Besonders erschütternd: Die Hälfte der interviewten Kinder hat bereits vor und während der Rückführung - also im Zuständigkeitsbereich von Institutionen von EU-Mitgliedsstaaten - traumatische »Gewalt- und Nötigungserfahrungen« gemacht. So seien auch kleinere Mädchen und Jungen in Handschellen und von Polizisten eskortiert in ein Flugzeug gebracht und / oder von ihren Eltern getrennt worden, berichtete Riebau. Lediglich drei Kinder hätten überhaupt eine Art »Reintegrationsplan« bekommen. Viele andere seien dagegen nach ihrer Ankunft am Airport von Kabul sich selbst überlassen worden. Viele Kinder berichteten von Anwerbungsversuchen durch Milizen. Hier sei die Dunkelziffer vermutlich sehr hoch, denn mit hoher Wahrscheinlichkeit hätten nur diejenigen mit den Interviewern darüber gesprochen, die sich erfolgreich gewehrt hätten.

Durch Abschiebungen und Rückführungen nach Afghanistan verletzten die EU-Staaten die Grundrechte von Kindern und selbst die Rückführungsrichtlinie der EU, rügte Riebau. Laut einem UN-Bericht wurden in dem zentralasiatischen Land allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mindestens 653 Kinder bei Anschlägen und Gefechten getötet und 1483 weitere verletzt.

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