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  • Das belgische Filmdrama »Girl«

Frau sein heißt bluten

Im Kino: Ein belgischer Film vermeidet erfreulicherweise fast alle Klischees über transweibliche Figuren

  • Jasper Nicolaisen
  • Lesedauer: 3 Min.

Es gibt nicht viele gute Geschichten über transweibliche Personen. Warum nicht? Die Antwort lautet vermutlich schlicht und blöd: Das Patriarchat ist schuld. Dass jemand scheinbar freiwillig die Privilegien des Mannseins aufgibt, ist in diesem Rahmen derart unvorstellbar, dass Transfrauen entweder groteske Monster sein müssen, Sexfantasien oder tragische Heldinnen zum Tode.

»Girl« ist zum Glück weitgehend eine leuchtende Ausnahme inmitten dieses ganzen Quatschs. Die jugendliche Protagonistin Lara wird hier von Anfang an ernst genommen und dankenswerterweise auch von der Familie unterstützt. Dass sie eine junge Frau ist, das wird nicht hinterfragt und auch nicht zum Gegenstand einer Leidensgeschichte gemacht. Selbst die Ärztinnen und Psychologen, die sie auf ihrem Weg unterstützen, wirken, kennt man einige reale Transitionsgeschichten, beinahe schon übertrieben zugewandt. Dabei verschweigt der Film gerade die anstrengenden und schmerzhaften Elemente eines medizinischen Anpassungsprozesses nicht.

Auch die Familiendynamik zwischen dem allein erziehenden Vater, der pubertierenden Tochter und dem wesentlich jüngeren Bruder wirkt glaubhaft porträtiert, was vor allem dem beeindruckend spielenden Ensemble und dem ruhigen, auf wenige hoch aufgeladene Szenen fokussierten Drehbuch zu verdanken ist. Der Sozialstress mit Gleichaltrigen erscheint in »Girl« zunächst angenehm unaufgeregt, wie Teenagermist eben so aussieht, subtil ergänzt um das Thema »Trans«.

Dass es dabei nicht bleibt, ist eine dramaturgisch verständliche Entscheidung, kommt aber nach der ruhigen, intensiven Entwicklung der ersten zwei Filmdrittel etwas plötzlich. Vor allem das dann doch überraschend brutale Ende wirkt aufgesetzt, so als wollte der Film seinem Gegenstand noch irgendwie Katastrophe und Katharsis abringen.

Der thematische Clou des Films erweist sich als Stärke und Pferdefuß zugleich: Die Protagonistin möchte Ballerina werden und kämpft sich durch den Drill einer klassischen Ballettschule. Naheliegenderweise werden beide Trainingsprozesse als Zurichtungsprozesse gezeigt und aufeinander abgebildet: Frau auch in den Augen der Welt sein wollen, eine Rolle einnehmen, den Körper formen, Bewegungen und Haltungen einstudieren, sich bis über die Schmerzgrenze hinaus einem Kanon und einem Ideal fügen, den Platz in einem Ensemble finden. Viel Bewegung zieht der Film aus der Kollision von eigenen Bedürfnissen und der Fremdbestimmung der Protagonistin, die eben anhand des Ballettthemas sinnfällig gemacht wird. Dagegen ist nichts zu sagen, allerdings lässt sich der Film ein bisschen sehr von dieser Dynamik gefangen nehmen und auch das bereits erwähnte brutale Ende fast schon aufzwingen. Frau sein heißt leider auch hier eben wieder: bluten.

Dennoch ist »Girl« ein absolut sehenswerter, über weite Strecken hoch fokussierter Film zum Thema Transweiblichkeit und Herwanwachsen, an dem vor allem die starken Darstellerinnen und Darsteller sowie die präzise Erzählweise überzeugen.

»Girl«, Belgien/Niederlande 2018. Regie: Lukas Dhont. Darsteller*innen: Victor Polster, Arieh Worthalter, Katelijne Damen. 106 Min.

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