nd-aktuell.de / 20.10.2018 / Politik / Seite 32

»Ich galt noch als Vaterlandsverräter«

Klaus Pfisterer organisierte die größte Menschenkette in der Geschichte der Bundesrepublik am 22. Oktober 1983 mit. Wie man Pazifist wird – und bleibt.

Ines Wallrodt

Sie sind Ihr gesamtes Erwachsenenleben in der Friedensbewegung aktiv. Ist es nicht deprimierend, wenn der größte Erfolg Ihres Engagements - die Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm - bereits Jahrzehnte zurückliegt?

Nein, das ist nicht deprimierend, weil es auch nicht stimmt. Die Friedensbewegung hatte immer Aufs und Abs. Besonders stark war sie natürlich rund um das Jahr 1983 herum, als Hunderttausende gegen die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland protestierten, und dann noch mal 2003 zum Irak-Krieg. Aber auch davor und danach waren wir aktiv und konnten einiges erreichen. Momentan konzentrieren wir uns auf drei große Bereiche: Rüstungsexporte, Atomwaffen und Bundeswehrwerbung. Eines ist klar, wenn man bei der Friedensbewegung mitmacht: Kurzfristige Erfolge sind selten.

Wie motivieren Sie sich während der Durststrecken?

So etwas wie der Friedensnobelpreis für die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) im letzten Jahr macht Mut, weil man merkt, langfristig hat man Erfolg. Mit der Friedensbewegung verbinden mich aber auch viele politische und persönliche Freundschaften. Und wenn man doch manchmal mit Wehmut zurückdenkt, wie gut die Zeit damals war, welch ein Zusammenhalt da war, schöpft man daraus auch wieder Kraft.

Wie wurden Sie Pazifist? Kommt das aus Ihrem Elternhaus?

Nein, das kam eher aus dem Freundeskreis. Als ich 1972 den Kriegsdienst verweigert habe, wurden Leute wie ich noch als Drückeberger und Vaterlandsverräter beschimpft. Im Freundeskreis gab es das erste Aufbegehren gegen diese Strukturen. Und dann kam die eigene Beschäftigung mit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs hinzu: Ich wusste, dass Deutschland dafür verantwortlich ist, und wollte dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert.

Wie fanden Ihre Eltern die Kriegsdienstverweigerung?

Mein Vater hat mich nicht explizit zum Kriegsgegner erzogen, aber ich wusste doch, dass der Krieg keinerlei positive Auswirkungen für ihn hatte. Er war als Soldat in Frankreich immer wieder in Todesgefahr. Mein Großvater hatte den Ersten Weltkrieg mitgemacht, im Zweiten hat er sich den Nazis still verweigert. Er hatte eine kleine Bäckerei, durch die war er zu Hause quasi unabkömmlich. Das alles wird auch einen kleinen Einfluss auf meine Entscheidung gehabt haben.

Viele Menschen sind in jungen Jahren Kriegsgegner und rücken davon im Laufe ihres Lebens ab. Wie bleibt man Pazifist? Haben Sie nie gezweifelt?

Krieg ist kein Mittel zur Lösung - das wurde meine Grundüberzeugung und die gibt man nicht so schnell wieder ab. Ich habe erlebt, wie überzeugte Bundeswehrangehörige zu Kriegsgegnern wurden. Das weiß ich deshalb, weil ich 30 Jahre Kriegsdienstverweigerer beraten habe und als Verfahrensbeistand in den Prüfungsverhandlungen dabei war, in denen am Anfang oft noch Altnazis saßen. Dadurch wurde meine Überzeugung gefestigt, dass wir eine andere Sinnhaftigkeit vermitteln müssen: gewaltlosen Widerstand.

1983 hat die Angst vor einer atomaren Konfrontation Hunderttausende Menschen bewegt. Rund 400 000 Menschen standen am 22. Oktober zwischen Stuttgart und Neu-Ulm auf der Straße, 108 Kilometer, mitten durch die Schwäbische Alb. Die Bilder gingen um die Welt. Jeder, der mal versucht hat, eine Massenaktion zu organisieren, wird neidvoll fragen: Wie haben die das hingekriegt?

Es gab schon 1981/82 große Demonstrationen gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluss in Bonn. Ganz unerwartet waren die Massen also nicht. 3000 oder 4000 Busse wurden angemietet, ständig mussten wir bei der Bundesbahn weitere Züge bestellen. Am Ende fuhren 48 Sonderzüge, mehr gab es nicht, das war die Kapazitätsgrenze.

Die Bahn war kooperativ?

Wir sind sogar hofiert worden! Weil wir hohe Einnahmen garantieren konnten. Eine Million D-Mark kosteten allein die Sonderzüge in Süddeutschland.

Wie haben Sie die ganzen Leute auf der Strecke verteilt?

Die Organisation war ganz einfach gute Kommunikation. Es gab eine klare Zuteilung, wer wohin muss. Mannheim fährt nach Göppingen, Karlsruhe nach Reichenbach usw. Am Ort selber hat man orange und blaue Luftballons ausgegeben und dann ist die orangene Abteilung nach links gelaufen, die blaue nach rechts, am nächsten Ort war es umgekehrt, so dass dann in der Mitte des Abschnittes hier die orangenen zusammenkamen und dort die blauen.

Aber alles ohne Mobiltelefon.

Dafür war der Motorradclub »Kuhle Wampe« als mobile Hilfstruppe unterwegs. Wir hatten sämtliche Telefonzellen entlang der Strecke besetzt und die fuhren die einzelnen Abschnitte ab und meldeten jeweils, die Kette steht. Diese Rückmeldungen sind ins Stuttgarter Büro zurückgeflossen.

Was war der glücklichste Moment an diesem Tag?

Ich stand auf der Kreuzung in Göppingen. Als dann um ein Uhr in den Nachrichten bekanntgegeben wurde, die Kette steht, da ging ein Raunen durch die Menge. Diesen Moment vergesse ich nicht.

Inzwischen gelten Menschenketten als ein bisschen angestaubt. Ärgert Sie das?

Es gibt nach wie vor Menschenketten. Mich freut es immer, wenn darauf zurückgegriffen wird.

Eine kurze Liebeserklärung an die Menschenkette:

Sie ist einfach und motivierend. Für manche ist eine Menschenkette die erste politische Aktion überhaupt. Man kann nicht erwarten, dass die Leute dann gleich Atomwaffendepots blockieren.

Wir haben jetzt viel über die logistische Meisterleistung und den Mobilisierungserfolg gesprochen. Politisch waren die Proteste aber eine Niederlage.

Am Anfang.

Bis heute lagern Atomwaffen in Büchel.

Das stimmt und ist ja auch ein Skandal. Auch die Pershings sind erst mal stationiert worden. Das war zu erwarten. Aber ohne uns wäre die Abstimmung im Bundestag nicht so umstritten und letztlich so knapp gewesen. Dann kam die Glasnost-Politik von Gorbatschow und am Ende wurden die Pershing II aus Deutschland abgezogen. Das sind die langfristigen Erfolge.

Ohne den Mauerfall 1989 wären die Raketen geblieben.

Das ist wahrscheinlich richtig. Aber wir konnten durch unseren Protest den politischen Druck erhöhen und aufrecht erhalten. Zugleich ist eine ganze Generation durch diese Erfahrung politisiert worden. Viele haben sich danach zum ersten Mal organisiert. Politische und persönliche Freundschaften sind damals entstanden.

Viele Mitstreiter haben sich aber auch verabschiedet. Wie geht es Ihnen damit?

Ein Teil ist verloren gegangen. Vor allem durch den Wandel der Grünen, die 1980 ja noch als klare Friedenspartei in den Bundestag einzogen und dann auf Realpolitik umstiegen. Ich kenne einige, die damals im Aktionsbüro für die gewaltfreie Aktion eingetreten sind und heute glühende Verfechter der Bundeswehr sind. Mit denen habe ich kaum noch Kontakt. Die gehen einem auch aus dem Weg. Das sind natürlich persönliche Enttäuschungen.

Was haben Sie aus dem 22. Oktober 1983 fürs Leben mitgenommen?

Dass es sich lohnt, sich für den Frieden einzusetzen. Es gibt so viele Beispiele dafür. Ich beschäftige mich seit Langem mit dem Problem Bundeswehr in der Schule, war ja selbst bis vor Kurzem Lehrer, auch wenn das Thema an Sonderschulen keine Rolle spielt. In Baden-Württemberg war es Vertretern der Friedensbewegung 21 Jahre verboten, im Unterricht aufzutreten. 2004 ist es mir gelungen, in Zusammenarbeit mit der GEW dieses Verbot aufzuheben. Das hat wieder gezeigt, der lange Atem ist richtig.

Und haben Sie seither eine Schwäche für die Schwäbische Alb?

Natürlich sind wir schonmal aus Nostalgie die Strecke nochmal abgefahren. Ich kann jedem nur empfehlen, auf die Schwäbische Alb zu gehen und Urlaub zu machen. Da ist es sehr schön.