Säule der Sicherheitsarchitektur wankt

Washington und Moskau werfen sich gegenseitig Verletzungen des Vertrages über Mittelstreckenraketen vor

  • Olaf Standke
  • Lesedauer: 4 Min.

Michail Gorbatschow weiß, wovon er spricht. Der Mann hat vor 31 Jahren in Washington mit US-Präsident Ronald Reagan den INF-Vertrag unterzeichnet. Das Akronym steht für Intermediate Range Nuclear Forces, atomare Mittelstreckenraketen. Abrüstungsverträge zerreiße man nicht, empörte sich der damalige KPdSU-Generalsekretär nach dem Vorstoß von Donald Trump zur Beerdigung eines der wichtigsten Atomvereinbarungen. Was auch in Berlin so gesehen wird. »Wir werben gegenüber den USA dafür, mögliche Konsequenzen zu bedenken«, erklärte Bundesaußenminister Heiko Maas. Denn dieser Vertrag sei eine Säule der gegenwärtigen Sicherheitsarchitektur. Schließlich dient er dem Schutz der USA und ihrer Verbündeten in Europa und Asien, auch wenn Trump erneut so tut, als wäre auch das ein schlechter Deal für die Vereinigten Staaten.

In Moskau wurden die fatalen Folgen am Montag schon vor den Gesprächen mit Trumps Nationalem Sicherheitsberater Jon Bolton, einem der treibenden Kräfte hinter dem verantwortungslosem Kurs Washingtons, beschworen. Ein Rückzug der USA würde »die Welt gefährlicher machen«, sagte Präsidentensprecher Dmitri Peskow. Russland müsse »nach einer Wiederherstellung des Gleichgewichts in diesem Bereich suchen«. Sollten die USA tatsächlich aussteigen, würde Washington genau die Systeme entwickeln, die durch den INF-Vertrag verboten sind. »Deshalb muss Russland Maßnahmen ergreifen, um seine eigene Sicherheit zu garantieren«, sagte Peskow gegenüber der Agentur TASS.

Beide Seiten verpflichteten sich in dem Abkommen zu einer »doppelten Nulllösung« - der Vernichtung aller landgestützten Flugkörper mit mittlerer und mit kürzerer Reichweite (500 bis 1000 Kilometer und 1000 bis 5500 Kilometer). Zudem ist die Entwicklung und Produktion neuer Raketen und Marschflugkörper dieser Einstufung verboten. Insgesamt 2692 wurden demontiert, 1846 sowjetische und 846 US-amerikanische. Darunter auch jene Pershing-II und SS-20, die für den erbitterten Streit in der damaligen Bundesrepublik über die Nachrüstung in den 1980-er Jahren standen. Das Ungleichgewicht beim Abbau ergab sich, weil die USA in ihrer nuklearen Triade traditionell stärker auf Atom-U-Boote und Langstreckenbomber bauen, also see- und luftgestützte Systeme. Auch das hat in Russland späterhin zunehmend für Unmut gesorgt.

Im Mai 1991 wurde die letzte Mittelstreckenrakete verschrottet. Zehn Jahre später galt der Vertrag als vollständig umgesetzt; inzwischen hatte man nach der Auflösung der UdSSR auch elf ehemalige Sowjetrepubliken einbezogen. Erstmals in der Geschichte war es gelungen, eine Waffengattung vollständig zu eliminieren. Doch schon 2007 wurde der Vertrag erstmals zur Disposition gestellt. Er ist zwar zeitlich unbegrenzt, doch haben die Vertragspartner das Recht zur einseitigen Kündigung.

Moskau drohte mit einem solchen Schritt, sollten die USA ihre Pläne für ein Raketenabwehrsystem in Osteuropa nahe der russischen Grenzen realisieren. Als in diesem Jahr die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit im kasachischen Almaty tagte, zeigten sich die sechs Teilnehmerstaaten zutiefst besorgt über »konkrete US-Militärprogramme, die ohne Rücksicht auf die Vertragsverpflichtungen umgesetzt werden« - etwa die »Produktion und Anwendung von Zielraketen und Kampfdrohnen sowie die Produktion und Stationierung von landgestützten Startrampen«.

Tatsächlich wurden im Pentagon-Etat für 2018 Mittel für die Entwicklung eines landgestützten, mobilen, atomwaffenfähigen Marschflugkörpers bewilligt, den auch unabhängige Experten als Verstoß gegen den INF-Vertrag sehen. Russland geht davon aus, dass die USA im Rahmen ihres globalen Raketenabwehrsystems Startanlagen installieren lassen, die für den Einsatz von Tomahawk-Marschflugkörper geeignet sind. Nach Rumänien soll auch Polen solche Systeme erhalten.

Washington wiederum wirft Russland schon seit Jahren vor, mit der Stationierung landgestützter nuklearwaffenfähiger Marschflugkörper des Typs 9M729 (NATO-Code SSC-8) mit einer Reichweite von 2600 Kilometern begonnen zu haben. Allerdings blieb der US-Präsident auch jetzt konkrete Beweise schuldig. Moskau bestreitet, dass der operativ-taktische Raketenkomplex »Iskander« den INF-Vertrag verletze; seine Reichweite läge unter dem Grenzwert.

Trump denkt bei seinem neuen INF-Vorstoß aber nicht nur an Russland: »Wir werden die Vereinbarung beenden und dann entwickeln wir diese Waffen« - bis auch China zustimmen werde, solche Waffen nicht zu besitzen. Peking hat den bilateral angelegten Vertrag natürlicherweise nicht unterschrieben und wehrte sich am Montag gegen den Versuch, »China in den Rückzug aus dem Vertrag zu involvieren«.

Sollten tatsächlich wieder landgestützte Mittelstreckenraketen in Europa stationiert werden, würde die Gefahr eines nuklearen Einsatzes angesichts massiv verkürzter Vorwarnzeiten dramatisch wachsen. Dann, betont Eugene Rumer von der Carnegie-Stiftung, könnte eine Situation entstehen ähnlich jener zwischen den USA und der Sowjetunion in den 1950er Jahren. Also tiefster Kalter Krieg mit einem »unkontrollierten atomaren Wettrüsten«, so die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN). Zumal der New-START-Vertrag über die Reduzierung der jeweiligen Nukleararsenale auf je 800 Trägersysteme und 1550 einsatzbereite Atomsprengköpfe 2021 ausläuft und keine Gespräche zwischen Washington und Moskau über eine Verlängerung oder Erneuerung in Sicht sind.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal