Drei Viertel aller Flüchtlinge sind traumatisiert

Hälfte der Asylsuchenden leidet laut einer Studie unter psychischen Problemen

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Berlin. Drei Viertel der in Deutschland lebenden Flüchtlinge haben traumatische Erfahrungen gemacht, die sich bei vielen auf ihre Gesundheit auswirken. Vor allem die psychischen Leiden müssten behandelt werden, heißt es in einer am Dienstag in Berlin veröffentlichten Erhebung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK, für die gut 2.000 Syrer, Afghanen und Iraker befragt wurden. Etwa jeder zweite Flüchtling in Deutschland kommt aus einem der drei Länder. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sprach von einer schwierigen Aufgabe, die man bisher unterschätzt und vernachlässigt habe.

Die traumatischen Erlebnisse verdoppeln der Studie zufolge die gesundheitlichen Probleme im Vergleich zu den Flüchtlingen, die keine Gewalt erleiden mussten. Fast jeder zweite befragte Flüchtling (48 Prozent) leidet unter psychischen Problemen. Diese zeigten sich als Niedergeschlagenheit und Antriebsschwäche oder als erhöhte Nervosität und innere Unruhe. Mehr als ein Fünftel zeigt Anzeichen einer Depression. Etwa jeder Dritte leide unter Schlafstörungen oder Rückenschmerzen.

Bei fast 70 Prozent der Befragten handelt es sich den Angaben zufolge um Männer, die meisten sind noch jung. Hochgerechnet auf die in Deutschland lebenden Flüchtlinge haben 600.000 Menschen verschiedenste Formen von Gewalt erlebt, viele mehrfach. An erster Stelle stehen der Befragung zufolge Kriegserlebnisse (60 Prozent), 40 Prozent waren Angriffen durch das Militär ausgesetzt. 35 Prozent mussten erleben, dass Angehörige verschleppt wurden oder verschwanden. Fast 20 Prozent wurden gefoltert, sechs Prozent erlitten sexuelle Gewalt.

Der SPD-Vizefraktionsvorsitzende Lauterbach sagte dem in Berlin erscheinenden »Tagesspiegel« (Mittwoch), die Betroffenen seien »ein Leben lang chronisch krank, mit hohen Kosten und einem nicht unerheblichen Risiko für die Gesellschaft«. Es mache aber weder ökonomisch noch menschlich Sinn, auf fundierte Behandlungen zu verzichten. »Wer hier den Kopf in den Sand steckt, braucht sich nicht zu wundern über Zwischenfälle, die keiner von uns wünscht.«

Lauterbach betonte zugleich, dass die Flüchtlinge das Gesundheitssystem Deutschlands wenig belasteten. Sie seien, von den Traumatisierungen abgesehen, kaum chronisch krank und noch sehr jung. Die Beiträge, die der Staat für Flüchtlinge zahle, seien momentan deutlich höher als die durch sie verursachten Gesundheitsausgaben. Auch deshalb sei es nicht begründbar, wenn die Kassen nun forderten, die Traumabehandlung von Flüchtlingen aus Steuern zu finanzieren. Über die Kostenübernahme für Dolmetscher könne man allerdings reden, so Lauterbach.

Bei der Befragung der Flüchtlinge handelt es sich um die erste, für Gesamtdeutschland repräsentative Studie dieser Art. Den Autoren zufolge sind rund 150.000 Menschen aufgrund der erlittenen Gewalt behandlungsbedürftig, auch in Hinblick auf die Integrationschancen der Betroffenen. Über die Therapie sollten Ärzte entscheiden, schreiben die Forscher. Bisher entscheiden darüber vorrangig Sachbearbeiter in den Sozialbehörden. Flüchtlingen steht in der ersten Zeit in aller Regel nur eine Minimalversorgung zu.

Nur zwei Dritten der Befragten hatten laut Studie in den vergangenen sechs Monaten einen Arzt aufgesucht, knapp sieben Prozent einen Facharzt. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, die Suche nach einem Arzt und die Verständigung seien sehr schwierig. In den psychosozialen Zentren, die sich um traumatisierte Flüchtling kümmern, werden nach Angaben der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft jährlich rund 17.500 Geflüchtete betreut. epd/nd

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