Die Stunde hat geschlagen

SONNTAGmorgen

  • Robert Rescue
  • Lesedauer: 3 Min.

Es geschieht selten, dass ich irgendwelcher Post so große Aufmerksamkeit zukommen lasse, dass ich sie an die Wand pinne. Der Brief meines DSL-Providers hat diese Wertschätzung verdient. Bereits sechs Wochen vorher kündigt er mir an, dass mein DSL an einem bestimmten Tag für eine Stunde abgeschaltet wird. Sie hätten diese furchtbare Nachricht drei Tage vorher zusenden sollen. So aber sickern die quälenden Gedanken, wie man diese Stunde rumkriegen soll, derart tief in mein Bewusstsein, dass ich drohe wahnsinnig zu werden. Wie soll ich mit diesem fundamentalen Eingriff in meine Menschenwürde umgehen?

Eine »Modernisierung« soll der Grund für die Abschaltung sein. Was bedeutet das? Werden die Kabel durchgeblasen, um Datenmüll zu entfernen? Wird die Leitung erneuert und ich habe danach ein »besseres«, vielleicht sogar »schnelleres« Internet? Dafür würde ich eine Stunde offline in Kauf nehmen. Aber generell und mit großem Misstrauen behaftet, gefragt: Welche Modernisierung dauert nur eine Stunde? Was der Brief ebenso verheimlicht, ist die Frage nach dem Wann. Ich könnte mich darauf einstellen. Mal Einkäufe erledigen oder etwas aufräumen. Immerhin kommt der DSL-Anbieter nicht aus Berlin, sonst würde ich mir große Sorgen machen, was die Einhaltung dieser einen Stunde anbetrifft.

Mitternacht. Ich sitze am Schreibtisch und schaue immer mal rüber in den Flur zum Router. Die beiden Lampen brennen noch. Nach einer Weile erwische ich mich dabei, dass ich etwa alle drei Minuten dorthin schaue. Ich kann mich überhaupt nicht mehr konzentrieren. Also schaue ich mir einen Film an. Der Blick wandert trotzdem in den Flur. Noch ist alles in Ordnung.

10 Uhr. Besser wird es sein, wenn ich im Bett liegen bleibe. Was ist, wenn ich mühsam aufstehe, im Flur auf den Router schaue und feststellen muss, dass es keinen Grund gibt, um aufzustehen. Gut möglich, dass jetzt in diesem Augenblick das DSL abgeschaltet wird.

13 Uhr. Ich kann nicht mehr. Ich stehe auf und gehe in den Flur. Die Lampen am Router leuchten, alles ist wie immer - oder wieder wie immer. Ich schalte den Rechner an. Vielleicht, so geht es mir kurz durch den Kopf, haben die überhaupt keine Abschaltung vorgenommen? Vielleicht verschoben, wegen irgendeiner technischen Panne, die mit dem Standort Berlin zu tun hat? Sie haben in der Erde gebuddelt und dabei die Reste einer mittelalterlichen Siedlung entdeckt. Der Vertreter der Berliner DSL-Aufsicht hat daraufhin mit den Worten »Hurra! Eine neue, touristische Einnahmequelle!« die weiteren Bauarbeiten für unbestimmbare Zeit gestoppt. Unbestimmbare Zeit, das klingt beruhigend. Dann kann ich mir später noch mal lang und breit Gedanken machen, was eine Stunde ohne Internet für mich bedeutet. Robert Rescue

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