Angst vor der Abschreckung

NATO erhöht Druck auf Russland und fürchtet sich zunehmend vor einem Zerwürfnis im eigenen Bündnis

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

NATO-Talk nennt sich die Veranstaltungsreihe, in der Sicherheitsexperten in loser Abfolge an verschiedenen Orten über unsere Welt im Zustand zwischen Frieden und Krieg reden. Am Montag trat Jens Stoltenberg vor das Auditorium in Berlin. Der NATO-Generalsekretär kam gerade von der größten Militärübung, die das westliche Militärbündnis seit dem Ende des Kalten Krieges in Norwegen, Stoltenbergs Heimat, abgehalten hat.

Normalerweise animieren solche per Drehbuch zwangsweise gewonnenen Kriegsspiele zu einem Gefühl der Selbstsicherheit. Stoltenberg jedoch sprach am Montag - ohne das Wort ein einziges Mal in den Mund zu nehmen - von Angst. Sie war es, die in den 1980er Jahren Hunderttausende auf die Straße trieb, um gegen die Stationierung von sowjetischen SS-20- und US-amerikanischen Pershing-II-Raketen zu protestieren. Gegenseitige Bedrohung und gegenseitige Angst führten zu politischer Vernunft und dem INF-Vertrag. Im Ergebnis des zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossenen Abkommens wurden nicht nur die beiden Raketentypen verschrottet. Man einigte sich 1987 bilateral auf ein Verbot von Mittelstreckenraketen, also jenen landgestützten Flugkörpern, die Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern aufweisen. »Für eine ganze Generation von Politikern, die in den 70er- und 80er Jahren aufwuchs - und damit auch für mich -, war das ein wichtiger Vertrag«, bekannte Stoltenberg.

Nun schleicht sich erneut Angst an. Dafür macht die NATO die Regierung in Moskau verantwortlich, denn: »Russland hat seit Jahren ein neues Raketensystem entwickelt, produziert, getestet und eingesetzt. Die SSC-8-Raketen sind mobil, sie sind schwer zu erkennen, sie können mit Atomwaffen ausgerüstet werden, sie reduzieren die Warnzeit auf Minuten, sie senken die Schwelle für nukleare Konflikte.« Und, so fügte Stoltenberg bei seinem Auftritt in der deutschen Hauptstadt hinzu: »Sie können europäische Städte wie Berlin erreichen.«

Über die mutmaßlichen Gründe, die Russland zum Bau und der Stationierung solcher Waffen bewogen hat, äußerte sich Stoltenberg nicht. Er hätte dann über das von den USA im Rahmen der NATO betriebene Raketenabwehrprogramm und über seegestützte Marschflugkörper des Westens reden müssen. Und auch wenn die NATO das anders sieht, Moskau fühlt sich von dem nach dem Zerfall des östlichen Blocks eingeleiteten Beitritt zahlreicher östlicher Staaten zur westlichen Allianz eingegrenzt und bedroht.

Stoltenberg selbst lieferte Russland Argumente, als er sagte, dass man jetzt die »Sicherheitsverbindungen zwischen Europa und Nordamerika« weiter stärken wolle. Er verwies darauf, dass die USA in den vergangenen Jahren die Finanzen für ihre militärische Präsenz in Europa um 40 Prozent erhöht haben und diese Präsenz in Europa jetzt »zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges mit mehr Truppen, mehr Ausrüstung und mehr Übungen« dokumentieren. Auch kanadische Truppen seien - erstmals seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion - wieder in Europa stationiert. Stoltenberg jedoch sieht ausschließlich das neue russische Raketensystem als »ernstes Risiko für die strategische Stabilität des euro-atlantischen Raums«.

Allerdings hält man es in europäischen Hauptstädten, auch in Berlin, für einen Fehler, den INF-Vertrag deshalb zu kündigen. Das hat US-Präsident Donald Trump unlängst angedroht. Und nun? Nun erklärt Stoltenberg: »Wir fordern Russland auf, die Einhaltung der Vorschriften sicherzustellen und zu einem konstruktiven Dialog mit den Vereinigten Staaten zurückzukehren.«

»Wir« dürften nicht zulassen, dass Rüstungskontrollabkommen ungestraft verletzt werden, sagte der NATO-Generalsekretär, weil sonst das Vertrauen in die Rüstungskontrolle im Allgemeinen untergraben werde. Wer ist »wir«? Besteht die NATO mehr denn je aus den USA und einem Rest, diesem ominösen »Wir«? Wie gewiss ist dann Stoltenbergs Aussage, »die NATO hat nicht die Absicht, neue Atomraketen in Europa einzusetzen«? Die Methode »Stärke zeigen« war doch schon einmal als »Doppelbeschluss« erfolgreich.

Die deutsche Regierung will das Abkommen retten. Auch um Russland, aber auch China und Iran keinen Vorwand zu liefern, weiter im Mittelstreckenbereich aufzurüsten.

Es deutet sich an, dass der Raketenstreit im NATO-Bündnis zunehmen wird. Stoltenberg selbst sieht offenbar mit Sorge diese und weitere transatlantische Buchstellen - beim Handel, beim Klimawandel, also bei »ernsten Themen«.

Wohl nicht von ungefähr erteilt der NATO-Chefpolitiker einer möglichen europäischen Selbstüberschätzung in Sachen EU-Verteidigungsunion oder gemeinsamer EU-Armee eine Absage. Verstärkte Verteidigungsbemühungen der EU seien zwar wichtig, »aber nur, wenn sie in der transatlantischen Partnerschaft verankert sind«. Stoltenberg machte klar: Er kann sich eine Verteidigung Europas nur schwer ohne ein Land wie die Türkei im Süden vorstellen, das für die Bekämpfung des Terrorismus von entscheidender Bedeutung sei. Oder ohne Norwegen im Norden des Kontinents. Oder ohne Kanada, die Vereinigten Staaten und Großbritannien.

Die europäische Einheit könne niemals die transatlantische Einheit ersetzen, denn nach dem Brexit, so rechnete der NATO-Generalsekretär den versammelten Experten in Deutschland vor, »werden 80 Prozent der Verteidigungsausgaben der NATO von Nicht-EU-Mitgliedern kommen«.

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