nd-aktuell.de / 17.11.2018 / Politik / Seite 8

Unter Geflüchteten

Martin Leidenfrost traf Syrer im muslimischen Nordwesten Bosniens

Martin Leidenfrost

In jener Samstagnacht, im muslimischen Nordwesten Bosniens, stand ich oft vor der Moschee der Stadt. Der Moscheepark war dunkel, einige der in Velika Kladuša festsitzenden Migranten standen herum. Ich sah zwei von ihnen als Schemen im Gegenlicht: Als sie weggehen wollten, zog zunächst der eine dem anderen sorgfältig einen Handschuh an, durchschritt langsam den Park, erst dann gingen sie weg.

Über der Straße, zehn Meter entfernt, lag die Tanzbar »Lacoste«. Offene Fenster, Jugo-Live-Musik, Frauenlachen, Lichter. Kurze Lederröcke, eine mächtige Federboa. Die Migranten saßen über Smartphones oder schauten unbewegt hinüber. Ich bewegte mich zwischen beiden Welten. Auch die Bosniaken im »Lacoste« waren zärtlich zueinander: Einer wurde getätschelt, als zöge man eine Handgranate auf seinem Hinterkopf, und ein Ausgewanderter wurde geehrt, indem man ihm die neue Lederjacke auszog. Die Sängerin ließ ihre Zigarette mit religiöser Glut auflodern.

Am Sonntag gegen Mittag ging ich zum Lager hinaus. Bürgermeister Fikret Abdic hatte es im Frühling angelegt. Er hat mit so was Erfahrung, als Warlord eines Separatstaats hatte er im Bosnien-Krieg sarajevotreue Bosniaken in eine Hühnerhalle gesperrt. 2018 ist sein Velika Kladuša ein Brennpunkt an der Außengrenze der EU, Kroatien hat den Grenzübergang gesperrt.

Das Lager, das sind Zelte auf nackter Erde und schon im Lager geborene Welpen streunender Köter. Ich sah ausschließlich männliche Migranten, betreut von einigen jungen, westeuropäischen, perfekt Englisch sprechenden Idealisten. Ein Flüchtlingshelfer lächelte versonnen, als er dem einzigen Jungen sein Fahrrad lieh. Ich sah, wie aus zwei schwarzen Limousinen ein wenig Second-Hand-Kleidung verteilt wurde. Mir kam ein schmerzgekrümmter Migrant entgegen, mehrere Kollegen stützten ihn. Nach zwei Jahren aus München abgeschoben, sagte der Marokkaner in akzentfreiem Deutsch: »Das sind die Eier!« - »Hat man Sie getreten?« - »Nee, das is ne Krankheit.«

In jener Samstagnacht redete ich im Moscheepark mit Migranten. Sie sagten, sie seien Syrer, die sich unterwegs zusammengetan hätten. Sie waren neu in Kladuša und schliefen im Moscheepark. Sie wollten nicht ins Lager, »das ist nicht sauber«, und sie lehnten auch das Essen der NGOs ab, »die mischen Schlafmittel rein, damit die Migranten keinen Ärger machen«. Einer war Damaszener, sprach Französisch und wollte nach Frankreich. Er war 14 Monate unterwegs gewesen, hatte die mazedonisch-serbische Grenze über Albanien umgangen. Er hatte noch nie Alkohol getrunken und sagte jenseits der tobenden Tanzbar: »Bosna ist ein gutes Land, weil es muslimisch ist. Wenn sie in Tuzla oder Sarajevo hören, dass du aus Syrien bist, nehmen sie im Restaurant kein Geld von dir. Hier kann ich mich in der Moschee waschen und das Handy aufladen, manchmal geben mir Gläubige zwei Mark.«

In jener Samstagnacht sprach mich auch ein Algerier an. Er war aus Österreich abgeschoben worden und flehte, ich möge ihn zurück nach Österreich schleppen. Ich lehnte ab. Wie auch den Syrern gab ich ihm Geld, er tanzte mir seine Dribbelkünste vor, danach war meine rechte Hosentasche leer. Er kam später wieder und gab mir mein abgewetztes Notizbuch zurück. Mein wertloses Handy behielt er.

Ich sah in jener Nacht, dass ein Geflüchteter auf dem Boden einer Čevabdžinica schlief, während der Inhaber den Grill reinigte. Und ganz spät in jener Samstagnacht, da sah ich vor der Moschee eine Gestalt wie einen mittelalterlichen Mönch. In schweren schwarzen Stoff gehüllt, der Grundfeste des Minaretts zugewandt, hockte er unbewegt da.