Türkei kämpft mit »Brain Drain«

Viele Akademiker aus der Türkei wandern schon jetzt aus, 73 Prozent der Studierenden wollen später im Ausland arbeiten

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 3 Min.

Erst kürzlich schlug der türkische Minister für Wissenschaft, Industrie und Technologie, Mustafa Varank, Alarm. »Die menschlichen Ressourcen, die wir über Jahre herangezogen haben, verlieren wir«, so Varank. Die Regierung hat, obwohl sie angesichts der ökonomischen Krise nicht gerade in Geld schwimmt, als Reaktion darauf ein Programm mit üppigen Prämien und Stipendien aufgelegt, um Akademiker zurückzuholen.

Die Zahlen sehen in der Tat dramatisch aus. Die Auswanderung aus der Türkei hat mit 113.000 Menschen im vergangenen Jahr um 63 Prozent zugenommen. Die Auswanderer kommen nicht mehr wie früher aus anatolischen Dörfern, sondern aus den blühenden Metropolen des Landes. Es sind vor allem die gut Ausgebildeten, die gehen. Einer Untersuchung der Arbeitgeberorganisation TISK zufolge wollen 73 Prozent der Studierenden in der Türkei später im Ausland arbeiten und vielen gelingt dies auch. Man kann wirklich von einem »Brain Drain«, einer Talentflucht, sprechen.

Der Anstieg lässt sich nicht mit der momentanen Wirtschaftskrise erklären, denn die Zahlen steigen schon länger. Es ist auch nicht so, dass nur die ganz Jungen wegziehen, die am Anfang ihrer Karriere stehen und vergleichsweise wenige soziale Bindungen haben. Nach Angaben der türkischen Statistikbehörde TÜIK stellt die Gruppe der 20 bis 34-Jährigen weniger als die Hälfte der Auswanderer. Es gehen auch viele Akademiker mittleren Alters mit Kind und Kegel.

Nach Gründen, warum insbesondere die gut Ausgebildeten ihre Zukunft woanders sehen, muss man nicht lange suchen. Da ist die Niederschlagung der Gezi-Proteste vor fünf Jahren. Die Protestbewegung wurde zwar keineswegs nur von jungen Akademikern getragen, aber sie hatten einen großen Anteil an ihr.

Die Entmündigung der Universitäten durch die Abschaffung der Rektorenwahl ist ein weiterer Faktor. Wie auch die massiven Eingriffe in den Schulalltag an den Gymnasien durch die Einsetzung von Rektoren aus einem religiös-konservativen Milieu, was zu Massenprotesten an den angesehensten Gymnasien in Istanbul geführt hatte. Die renommierte Technische Universität des Nahen Ostens (ODTÜ) in Ankara war in den letzten Jahren ständiger Schauplatz von Studentenprotesten und Polizeieinsätzen. Gebracht haben die Proteste nicht eben viel. Stattdessen ist die Atmosphäre immer restriktiver geworden.

Viele der Wegziehenden vermeiden es, öffentlich über die Gründe für ihre Entscheidung zu sprechen, weil sie Sanktionen fürchten. Gegenüber der kleinen Zeitung »BirGün« haben es zwei dennoch getan. Der eine ist der Finanzmathematiker Ekin Baris Sah, der seit einem Jahr in Norwegen lebt. Auf das Rückkehrprogramm der AKP-Regierung angesprochen meint Sah, dass niemand in einem Land akademisch arbeiten wolle, in dem Wikipedia verboten sei und eine repressive Atmosphäre herrsche, selbst wenn die Regierung das Stipendium für Doktoranden verzehnfache. »In einem Milieu, in dem Angst und Paranoia herrschen, kann es keine Wissenschaft geben.«

Emre Sevim hat es indes nach Deutschland verschlagen. Sie arbeitete beim Ministerium für Kultur und Tourismus und hatte eine Doktorarbeit an der Universität Ankara begonnen. Doch dann wurden wichtige Dozenten per Dekret entlassen. Pensionierten Dozenten, die noch Stunden gaben, wurde der Zutritt zur Universität verweigert. Gegen sie selbst wurden zwei Untersuchungen angestrengt. Deshalb sei sie gegangen, so Sevim, obwohl sie und ihr Mann gerne in die Türkei zurückkehren würden, denn alle ihre Freunde und Bekannten seien dort.

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