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Grauer Schleier über Nantes

Auch in der Provinz, wo die Gelbwesten ihren Anfang nahmen, wurde am Samstag protestiert.

  • Romy Straßenburg, Nantes
  • Lesedauer: 7 Min.

Ein grauer Regenschleier hängt tief über der Stadt. »Il pleut sur Nantes« (»Es regnet in Nantes«). So besang die französische Chanson-Legende Barbara 1964 die Stadt an den Ufern der Loire. »Der Himmel lässt mein Herz schmerzen«, heißt es melancholisch. Auch an diesem Dezembersamstag verwischt der anhaltende Sprühregen die Konturen der Kalksteinfassaden im historischen Zentrum, der spätgotischen Kathedrale und der weitläufigen Esplanaden. Die Wolken scheinen fast im Fluss zu versinken, als sich gegen 10 Uhr rund hundert Menschen in gelben Westen am Gare Maritime, dem kleinen Fährhafen am Rande der Stadt, versammeln. Ihren Treffpunkt haben sie am Vorabend über ihre Facebook-Gruppe vereinbart, die bereits Wut im Namen trägt: Colère 44 (mit 44 beginnen in der Region die Postleitzahlen). Die Gruppe zählt mittlerweile über 16.000 Mitglieder, beachtlich für eine Stadt mit knapp 300.000 Einwohnern.

Die Anwesenden stehen ein wenig ratlos herum. Kommen noch welche? Soll man sich auf den Weg in die Innenstadt machen? Immer wieder checken sie auf ihren Handys die Lage in Paris. »Fast 300 Festnahmen schon in den Morgenstunden«, klärt ein junger Mann die Umstehenden auf. »Metrostationen, Eiffelturm, die meisten Museen und viele Geschäfte bleiben geschlossen!« Ein paar Umstehende applaudieren. Die meisten kennen sich mittlerweile. Küsschen werden ausgetauscht, man debattiert über die Volten der Regierung in der letzten Woche. Schön und gut, sie hat die Kraftstoffsteuererhöhung ausgesetzt. Aber das reicht ihnen längst nicht mehr.

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Sie nennen es Acte IV, den vierten Akt. Bereits den vierten Samstag in Folge werden sie auf die Straße gehen. So wie zehntausende Franzosen im ganzen Land. Die gelbe Weste, le gilet jaune, ist zu ihrem Markenzeichen geworden. Sie symbolisiert ihre Entschlossenheit, ihre Wut und ihre Ausdauer. Sie ist gut sichtbar im Wintergrau und sie ist sichtbar geworden, weit über Frankreich hinaus.

Eine veritable Bedrohung für die Regierung, eine außergewöhnliche Situation für Emmanuel Macron, der jüngste Präsident der V. Republik: Er ist zu ihrer Hassfigur geworden. So unterschiedlich die Demonstranten in Hinblick auf ihr Alter, ihren Berufsstand, ihre Hautfarbe oder ihr soziales Umfeld sein mögen, bei der Rücktrittsforderung »Macron, démission«, sind sich alle einig.

Auch Catherine und Xavier, ein Pärchen rund um die 50 sind gekommen: »Dabei haben wir beide ein gutes Auskommen, wir sind Informatiker mit festen Verträgen. Wir haben nicht mal Kinder zu versorgen. Trotzdem empfinden wir Solidarität. Mit unseren Eltern, die kleine Renten beziehen, mit Obdachlosen, die immer zahlreicher und jünger werden. Wir gehören zu den wenigen Privilegierten, die noch eine Festanstellung haben und sich nicht fragen müssen, wie weit sie in diesem Monat den Dispo überziehen. Aber wir bangen um Frankreichs Zukunft Frankreichs, denn gerade laufen wir in die ganz falsche Richtung.«

Für sie heißt nun die Richtung Centre ville. Langsam setzt sich der Zug zum Stadtzentrum in Bewegung. Xavier sagt, drei Zahlen würden ausreichen, um sich klarzumachen, wie vieles in Frankreich schief läuft: »9 Millionen Franzosen leben unter der Armutsschwelle. 200.000 Menschen sind Obdachlos und 100 Milliarden Euro gehen dem Staat pro Jahr durch Steuerhinterziehung verloren. In Paris schlafen Leute, die jeden Tag arbeiten gehen, nachts in ihren Autos. Wer den Mindestlohn verdient, liegt bei 1150 Euro im Monat. Das sind 100 Euro mehr, als der Betrag, der als Armutsschwelle gilt.« Der Benzinpreis sei nur der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe, glaubt Catherine. Auf die Frage, wie sie die Gewalt erlebt haben, heißt es: »Wir haben die Bewegung völlig friedlich erlebt. Es herrscht ausgelassene Stimmung. Wir erfahren viel Sympathie, es sind fröhliche Zusammenkünfte, Gewaltausbrüche in unseren Reihen hat es nicht gegeben.«

Auch Daisy hat die Bewegung bislang von ihrer friedlichen Seite erlebt und hofft, dass so kurz vor Weihnachten so bleibt. »Die Geschenke für meine acht Enkel werden in diesem Jahr spärlich ausfallen«, gesteht sie. Die 63-jährige Rentnerin ist stolz auf ihre selbst gefertigte Verkleidung. Die roten Zöpfe, der Schnurrbart, das Obelix-Kostüm. Ebenso wie Xavier und Catherine verurteilt sie die Randalierer aus den Reihen der radikalen Linken und Rechten. Aber noch mehr verurteilt sie die soziale Ungleichheit im Land: »Unsere Kaufkraft sinkt, die Kosten steigen. Für die Zukunft meiner Kinder sehe ich kaum mehr Perspektiven.« Umso mehr genießt sie die positive Energie und den Zusammenhalt, den sie innerhalb der Bewegung verspürt. Sie ärgert sich über Macrons Respektlosigkeiten, über sein Schweigen, über seine Abwesenheit, da er es offenbar nicht für nötig halte, vor Ort mit den Menschen zu sprechen. Dieses »vor Ort«, sur le terrain, ist häufig zu hören unter den Demonstrierenden.

Jetzt erst recht
Auch nachdem die französische Regierung die geplante Steuererhöhung zurückgezogen hat, gab es am Samstag in ganz Frankreich Proteste. nd-Redakteurin Nelli Tügel berichtet aus Paris.

Dabei ist die Bewegung in der Provinz geboren. Dort, wo nichts ohne Auto geht, wo kleine Zuglinien eingestellt werden und wo kaum noch Busse verkehren. Klimaschutz, gut und schön, aber wovon sollen sie die Steuererhöhung noch bezahlen? Es ist dieses diffuse Gefühl abgehängt zu sein, es ist die Frage nach Verteilungsgerechtigkeit in Zeiten der Globalisierung mit den Gesetzen des Neoliberalismus, mit der europäischen Austeritätspolitik. Ein Teil der Franzosen glaubt schlichtweg, nicht mehr gebraucht zu werden. Daran kann auch die sozialistische Bürgermeisterin der Stadt, Johanna Rolland, kaum etwas ändern. Sie hatte vorab an die Gelbwesten appelliert, friedlich zu demonstrieren.

Mittlerweile sind diese im Stadtzentrum angekommen, doch für Catherine, Xavier und Daisy endet die Demo an dieser Stelle. Was jetzt kommt, verfolgen sie über das Internet, bei Colère 44. Von weitem sieht man Rauchwolken aufsteigen. Der Geruch von Tränengas zieht heran. Die Händler vor den Buden des kleinen Weihnachtsmarktes warten trotzdem auf Kundschaft. Die kleine Achterbahn steht still. Nicht nur gelbe Westen, auch grüne Armbinden sind zu sehen, denn wie überall im Land findet auch in Nantes zeitgleich der »Klimamarsch« statt. Die halbe Stadt scheint auf den Beinen, beide Demos werden schnell zu einer und an allen Ecken stehen Einsatzwagen der Polizei, Feuerwehrautos, Straßensperren.

Zu Beginn des Nachmittags heizt sich die Stimmung auf. In regelmäßigen Abständen sind Detonationen zu hören. Dann einige Sekunden lang gespenstisches Schweigen. Dann geraten die vereinzelten Gruppen in Bewegung. Die Situation ist grotesk, denn trotz des Katz- und Maus-Spiels zwischen den Einsatzkräften und den rund tausend Demonstranten, trotz brennender Mülltonnen und trotz fliegender Steine, bewahren die zahlreichen Herumstehenden die Ruhe. »Für Nantes ist solch ein Ungehorsam nichts Besonderes. Wir hatten ja über drei Jahrzehnte lang den Widerstand gegen das Flughafenprojekt Notre-Dame-des-Landes. Und gemeinsam mit Saint-Nazaire stehen wir in der Tradition des Aufstands der Hafenarbeiter im Jahre 1955. So erkläre ich mir die Gelassenheit vieler Leute«, erklärt Thierry Kruger. Er lässt seine Kamera ohne Unterbrechung laufen und kommentiert das Geschehen. Der Filmemacher hatte bereits die umstrittene Räumung vieler alternativer Wohnprojekte auf dem Gebiet von Notre-Dame-des-Landes dokumentiert. Krueger ist in der linken Szene eine bekannte Figur. Er ist Unterstützer des Vereins Alternatiba, ein Bündnis zum Klimaschutz, dessen Mitstreiter heute die grünen Armbinden tragen.

Plötzlich rückt die Polizei von zwei Seiten an und versucht die Demonstranten einzukesseln. Wieder fliegen Steine, Äste und Flaschen. Den direkten Kontakt meiden die Einsatzkräfte, zu groß ist die Furcht vor Verletzten. Der Einsatz von Tränengas zeigt seine Wirkung. Hier und da sind Sirenen zu hören, die Straßenbahn hat den Betrieb eingestellt. Aus Paris erfährt man indes von Plünderungen und hunderten Festnahmen. Auch in Bordeaux und Toulouse soll die Lage stellenweise eskaliert sein. Über tausend Festnahmen, weit mehr als an den vergangenen Wochenenden. Kein Wunder, wurden doch fast neunzigtausend Polizisten mobilisiert, um die 136.000 Teilnehmer im ganzen Land in Schach zu halten.

Gegen Abend schließen die Händler auf dem Weihnachtsmarkt ihre Buden. Nach Glühwein steht heute sowieso niemanden mehr der Sinn. In den frühen Abendstunden nimmt die Straßenbahn den Betrieb wieder auf. Die Demo löst sich nach und nach auf. Um 19:32 Uhr twittert die Präfektur, sie sei beendet. Bilanz: 13 Festnahmen, ein verletzter Polizist und ein Merci an die Einsatzkräfte. Es klingt so sei alles nahezu normal verlaufen. In vielen Crêperien geht auf Bildschirmen die Live-Berichterstattung aus Paris weiter. Es regnet noch immer in Nantes. Nur die Rauchschwaden sind vorerst verflogen.

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