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Von Gezi zu den Gelbwesten

Yücel Özdemir über einen türkischen Präsidenten, der Polizeigewalt in Frankreich verurteilt

  • Yücel Özdemir
  • Lesedauer: 4 Min.

War das nun ein Witz oder meint er das ernst? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan verkündete nach den Angriffen der französischen Polizei auf die Gelbwesten, »unverhältnismäßige Gewalt« werde »nicht akzeptiert«. In seiner Rede am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, fügte er dem noch hinzu: »Europa ist wohl in der Lektion zu Demokratie und Menschenrechte sitzengeblieben. Diejenigen, die sich bei den Gezi-Protesten für Menschenrechte in die Bresche geworfen haben, sind nun blind, taub und stumm gegenüber den Ereignissen in Paris.« Am darauffolgenden Tag verwandelten die regierungsnahen Zeitungen Erdoğans Worte in Überschriften wie »Die Schminke des Westens verläuft« (»Türkiye«), »Blind, taub, stumm« (»Güneş«), »Bei Gezi friedvoll, in Paris wie die Vandalen« (»Akşam«), »Weltmeister der Menschlichkeit sind wir« (»Star«).

Während also die französische Polizei von Erdoğan kritisiert wurde, sprach er der türkischen Staatsmacht ein Lob aus: »Unsere Polizei ist human.« Jedoch sind nicht nur den Menschen in der Türkei, sondern auch in Europa die zahlreichen Angriffe der türkischen Polizei auf friedliche Protestaktionen im Gedächtnis geblieben. Erst vor einigen Monaten beispielsweise wurden in Istanbul vor dem Galatasaray-Gymnasium die Samstagsmütter, die für ihre entführten Kinder protestieren, geschlagen und verhaftet.

Bei seiner Kritik an der französischen Polizei verwies Erdoğan ständig auf die Gezi-Proteste von 2013. Womit sollen wir nur anfangen, wenn wir uns an damals erinnern? Ali İsmail Korkmaz wurde in Eskişehir von einer Polizeitruppe gelyncht und getötet. Der Polizist, der Ethem Sarısülük aus nächster Nähe in den Kopf schoss, wurde später bestraft. Der 15-jährige Berkin Elvan, der nur Brot holen wollte und dabei von einer Tränengasgranate schwer verletzt wurde, starb nach mehrmonatigem Koma. Laut offiziellen Zahlen haben bei Gezi acht Jugendliche ihr Leben verloren. Außerdem wurden viele Menschen durch Polizeigewalt und Tränengas ihres Augenlichts, der Arme oder Beine beraubt ...

Bis heute gibt es zudem unzählige Angriffe auf Frauen, Kurden, streikende Arbeiter, auf gewöhnliche Leute durch die türkische Polizei. Bezieht man sich auf die türkische Polizei als positives Beispiel, um die Gewalt der französischen Polizei zu verurteilen, ist das nichts anderes als eine Verhöhnung der Geschädigten.

Erdoğan will Frankreich, und damit auch Europa, eine Lektion in Demokratie erteilen. In seiner Gefolgschaft entsteht dadurch die Wahrnehmung: »Wir haben Europa in Sachen Demokratie überholt. Jetzt weisen wir sie zurecht.«

Und wie ist das eigentlich mit den »externen Kräften«? Während der Gezi-Proteste hatte Erdoğan alle Staatsoberhäupter, das sich dazu äußerten, als »externe Kräfte« bezeichnet, die ihn stürzen wollten. Würde Macron ticken wie Erdoğan, könnte er nun auch behaupten, die Gelbwesten seien beeinflusst von »externen Kräften«. Doch weder die Gelbwesten sind das Werk »externer Kräften«, noch waren es die Gezi-Proteste.

Obgleich seit Gezi fünf Jahre vergangen sind, ist Erdoğans Wut auf die damaligen Proteste nicht abgeebbt. So wird der Unternehmer und Philanthrop Osman Kavala als Handlanger »externer Kräfte« gesehen und befindet sich daher seit mehr als einem Jahr ohne Anklageschrift in Haft. Für den in Berlin lebenden Journalisten Can Dündar wurde mit Verweis auf Gezi erst kürzlich ein Haftbefehl erlassen. Kurzum: Um ein neues Gezi zu verhindern, fährt Erdoğan damit fort, die türkische Gesellschaft und die Intellektuellen zu bedrohen sowie Polizeigewalt zu legitimieren. Dass allein 2017 gegen 20 539 Personen Anzeige wegen »Präsidentenbeleidigung« gestellt wurde, ist Ausdruck dessen.

Jedoch weiß man nie genau, wann die sozialen Verhältnisse explodieren. Wer hätte gedacht, dass in Frankreich eine Bewegung wie die Gelbwesten sich in so kurzer Zeit entwickeln würde, und dass Macron, der der starke Anführer von Europa sein wollte, derart in Bedrängnis geraten könnte? In jedem Land, das wird mit Blick auf Frankreich klar, können jederzeit ähnliche Bewegungen entstehen, die den Thron der mächtigsten Staatsoberhäupter ins Wanken zu bringen in der Lage sind. Die Geschichte der Menschheit ist voller Aufstände gegen Könige, Diktatoren oder Staatsoberhäupter, die zunächst den Anschein erweckten, zu allem im Stande zu sein. Allein dieses Wissen reicht, um Hoffnung zu schöpfen.

Aus dem Türkischen von Svenja Huck

Die türkische Fassung der Kolumne ist hier nachzulesen.

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