90 Jahre und ziemlich unrund

Im Jubiläumsjahr stehen die Berliner Verkehrsbetriebe am Rand des Kollaps’

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 5 Min.

«Die BVG wird cool», so überschreibt Martell Beck, Bereichsleiter Vertrieb und Marketing bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) in der Dezemberausgabe der hauseigenen Mitarbeiterzeitschrift «Profil», was für die neunte Dekade der Geschichte des Landesunternehmens aus seiner Sicht prägend war.

Am 1. Januar werden die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) seit genau 90 Jahren U-Bahn, Straßenbahn und Bus in der Hauptstadt betreiben. Es war ein grandioser Triumph des damaligen sozialdemokratischen Berliner Verkehrsdezernenten Ernst Reuter, der nach dem Zweiten Weltkrieg Oberbürgermeister werden sollte. «Mobilität für alle», lautete sein Motto.

Zum Jahreswechsel 1929 übernahm die damalige Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft als städtisches Unternehmen den Betrieb. Knapp 26 000 Beschäftigte waren nun für den Betrieb von sieben U-Bahnlinien, 90 Straßenbahnlinien und immerhin 35 Buslinien unter einem Dach zuständig, 5000 Fahrzeuge waren im Einsatz. Rund um das Jubiläumsjahr ist der Lack jedoch ab bei der BVG. Nach vielen Sparjahren ist das Unternehmen ziemlich abgewirtschaftet.

Beck denkt lieber an die Marketingerfolge der BVG. «Die Idee war: Lass uns doch die Berlinerinnen und Berliner zu unseren Freunden machen», so der Gedanke hinter «Weil wir Dich lieben». Seiner Ansicht nach hat das funktioniert.

Das dürfte für die täglichen Nutzer von U-Bahn, Straßenbahn und Bus mehr wie Hohn wirken. Nach über einem Jahrzehnt unterlassener Investitionen sind diese oft froh, wenn sie überhaupt in die Verkehrsmittel reinkommen.

Zum Beispiel beim Bus. Bis Heiligabend gab es dieses Jahr bereits 110 000 sogenannte 100-Prozent-Meldungen. Damit meldet der Fahrer an die Leitstelle, dass niemand mehr ins Fahrzeug passt. Damit wird 2018 aller Voraussicht nach den Negativrekord 2017, als diese Zahlen bis Jahresende erreicht wurden, in den Schatten stellen. 2015 meldeten Fahrer noch 86 000 Mal «Mein Bus ist voll». Ein Jahr später waren es rund 95 000 Meldungen. Dabei ist der Augenschein der Fahrer maßgebend, automatisierte Zählungen gibt es nicht.

«Der wichtigste Grund ist, dass die Busse schwer durch die Stadt kommen», sagt BVG-Sprecherin Petra Reetz. «Deshalb stauen die Busse sich.» Fahrzeuge gebe es genug, aber Staus, Parker auf Busspuren und Baustellen nähmen zu.

Die Beschäftigten des Busbereichs haben andere Erklärungen. Im August wandten sie sich in einem Offenen Brief an BVG-Chefin Sigrid Nikutta. Sie beklagten unter anderem schlechte Bezahlung - Berlin liegt laut Schreiben auf Platz 17 beim Einkommensranking der Verkehrsbetriebe. «In allen Verkehrsbereichen der BVG leiden wir in zunehmend dramatischer Weise unter Personalmangel, defekten Fahrzeugen und Anlagen, Wagenmangel, extremer Arbeitsverdichtung bei unregelmäßigen Arbeitszeiten, zusammengestrichene Wende/Kehr- und Fahrzeiten», schreiben sie.

Bereits im Juli meldeten sich die Straßenbahner in einem Offenen Brief zu Wort. Nicht zu realisierende Pausenansprüche, eine nicht ausreichend instandgehaltene Infrastruktur, die Vorwürfe gleichen sich. «Die gesamte Struktur, die im Hintergrund für einen ordnungsgemäßen Straßenbahnbetrieb notwendig ist, ist nicht mit den Leistungszuwächsen der letzten Jahre mitgewachsen», heißt es unter anderem in dem Schreiben. Dass es sich um systematische Probleme handelt, wird bei der BVG jedoch immer wieder abgestritten. Es gebe ausreichend Fahrer, nur sei der Krankenstand gerade zu hoch, heißt es dann beispielsweise.

«Ich habe den Eindruck, bei der BVG traut man sich nicht, vor dem Senat die Hosen herunterzulassen», sagte kürzlich der inzwischen in Rente gegangene Straßenbahn-Dienstplaner Detlef Siepelt zu «nd». «Als Sigrid Nikutta 2010 als BVG-Chefin anfing, war sie ein ganz großer Hoffnungsschimmer. Jemand von außen, der keine Rücksicht auf irgendwelche Leichen im Keller nehmen musste», erinnerte er sich. «Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt», so sein bitteres Fazit.

In der Mitarbeiterzeitschrift «Profil» kommt auch Nikutta zu Wort. Trotz «nicht immer einfacher Bedingungen gelinge es der BVG täglich »zuverlässig und rund um die Uhr mehr als drei Millionen Menschen an ihr Ziel« zu bringen, erklärt sie. »Ganz klar wird das 90. Jahr davon geprägt sein, viele neue und motivierte Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen, unseren Fuhrpark zu modernisieren und offen zu sein für neue Ideen der Mobilität«, sagt sie noch. Das Wort »Krise« kommt nicht vor. Dabei sickerte erst vor einigen Tagen durch, dass bei der U-Bahn auf einigen Linien der Takt in der Hauptverkehrszeit auf fünf Minuten gestreckt werden soll, um wieder eine Wagenreserve aufbauen zu können.

»Ich gratuliere allen BVGern zum Jubiläum«, sagt Jens Wieseke, stellvertretender Vorsitzender des Berliner Fahrgastverbands IGEB. Die leisteten insgesamt hervorragende Arbeit. »Ausnehmen von der Gratulation möchte ich allerdings Dr. Nikutta mit ihrer Abgehobenheit«, so Wieseke. »Denn die BVG steckt in einer großen Krise.«

Die öffentliche Diskussion kochte so hoch, dass sich kürzlich die BVG-Aufsichtsratsvorsitzende, Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne), in die Betriebswerkstatt Britz der U-Bahn begab. Dort müssen wegen eines baufälligen Verbindungstunnels zur U5 alle Wagen der Linien U6 bis U9 des sogenannten Großprofils gewartet werden - 82 Prozent des entsprechenden Rollmaterials. Weil Flotte und Wartungstechnik veraltet sind, fehlen permanent Wagen im Betrieb, Züge fallen aus oder fahren verkürzt.

Eine große Bestellung mit 1500 Wagen für alle U-Bahnlinien soll endgültig im September 2019 in Auftrag gegeben werden. Mit Glück könnten Ende 2020 die ersten Prototypen rollen, die Serienlieferung könnte 2021 oder 2022 beginnen. »Der Prototyp einer neuen Wagenserie hätte spätestens 2012 fertiggestellt sein müssen, um die Wagenkrise bei der U-Bahn zu verhindern«, sagt ein Insider. Pop und die Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne) verweisen angesichts der aktuellen Lage gerne darauf, dass in den vergangenen Jahren viel zu wenig investiert worden ist. Allein in die Reparatur von U-Bahnstrecken werden rund 800 Millionen Euro bis 2022 gesteckt werden müssen. Die U1 wird für ein Jahr zwischen Kottbusser Tor und Warschauer Straße gesperrt werden müssen, die U6 sogar für über anderthalb Jahre zwischen Kurt-Schumacher-Platz und Tegel.

Gleichzeitig wird bereits die nächste Investitionen aufgeschoben, nämlich jene in die Automatisierung hochbelasteter U-Bahnstrecken. Wieseke fordert bis Mitte der 2020er Jahre einen Zweieinhalb-Minuten-Takt auf innerstädtischen Abschnitten der Metro. Nur so kann seiner Ansicht nach der Andrang bewältigt werden. Stabil lassen sich solche Intervalle nur automatisiert fahren. Konkrete Planungen dafür gibt es bei BVG und Senat jedoch nicht.

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