Von wegen »Pultstatus«

Nirgends ist Schulpersonal so verrufen wie hierzulande

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 5 Min.

Angeblich sind sie »faule Säcke«. Schon mittags haben sie frei - und können dazu noch zwölf Wochen Ferien im Jahr genießen! Mit solch platten Vorurteilen müssen sich Lehrkräfte immer wieder auseinandersetzen. Das miserable Image dieses so wichtigen Berufsstands hat auch damit zu tun, dass - ähnlich wie beim Fußball - zum Thema Schule fast alle etwas zu sagen haben oder das zumindest von sich denken; denn die meisten hatten schon selbst mit Schule und dem dazugehörigen Lehrpersonal zu tun. So kommt es, dass auch womöglich enttäuschende Erfahrungen aus längst vergangenen eigenen Schulzeiten auf die heutigen Pädagog*innen übertragen werden.

Den Lehrkräften fällt heute mehr denn je die Funktion einer Torwache für die Bildungsschicksale des Nachwuchses zu. Rigide Selektionsmechanismen wie der Übertritt von der Grundschule ins Gymnasium nur bei gutem Notendurchschnitt - oder, etwas weniger drastisch, per »Schulempfehlung« - lösen Gefühle von Ohnmacht bei den Eltern aus. Sie schüren Aggressionen - ganz zu schweigen vom Neid auf die Verbeamteten und deren Privilegien, etwa bei der Altersversorgung.

Dem Alltag der meisten Lehrenden wird das nicht gerecht. Denn jeden Tag mehrere Stunden vor pubertierenden Jugendlichen oder lauten Grundschüler*innen zu stehen ist sehr anstrengend, eine ständige Reizüberflutung. Unbedingte Voraussetzung sind die Fähigkeit zum flexiblen Multitasking sowie eine intensive Vorbereitung. Das gilt nicht nur an den sogenannten sozialen Brennpunkten der Großstädte mit ihrer kulturell vielfältigen und vermeintlich schwierigen Schülerschaft. Das schulische Lehrpersonal hat sich mithin einer sehr verantwortungsvollen Aufgabe zu stellen, die eigentlich korrespondieren müsste mit einem besonders hohen Respekt aus der Gesellschaft. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Jüngst hat die britische Varkey Foundation zum zweiten Mal nach 2013 die Ergebnisse einer umfangreichen internationalen Untersuchung zum sozialen Ansehen von Lehrpersonal veröffentlicht. Stiftungsgründer Sunny Varkey ist ein in den arabischen Emiraten ansässiger indischer Unternehmer, der in mehreren Ländern mehr als hundert private Schulen und Kindergärten betreibt. Für die Studie wurden über 40 000 Menschen in 35 Ländern befragt. Ihr zufolge hat der Beruf vor allem in asiatischen Ländern einen hohen Stellenwert. Die Pädagog*innen aus China, Indonesien, Malaysia und Taiwan liegen im Ranking des »Global Teacher Status Index 2018« ganz vorn. In Deutschland dagegen, so ergab die Befragung, würde nur jede*r Fünfte dem eigenen Kind empfehlen, den Lehrberuf zu ergreifen. Zum Vergleich: In Indien tun dies 54 Prozent.

In sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländern, in denen es erheblich mehr Kinder und Jugendliche und zudem große Bildungsdefizite gibt, ist der Ruf der Lehrkräfte meist deutlich besser. Die schulische Erziehung des Nachwuchses bringen Eltern dort mit dem sozialen Aufstieg der eigenen Familie in Verbindung. Doch auch in vielen Staaten der Europäischen Union wird der Untersuchung zufolge die Leistung der Lehrenden weit stärker anerkannt als in Deutschland. Noch niedriger liegen in diesem Image-Ranking nur Teile Osteuropas: In Russland raten gerade mal sechs Prozent der Befragten zum Ergreifen des schulischen Lehrberufs.

Immerhin ist die fehlende Wertschätzung hierzulande nicht mit einer schlechten Bezahlung verbunden: Beim Gehalt liegen die deutschen Lehrkräfte international sogar in der Spitzengruppe, nur in der Schweiz liegt die Entlohnung höher. »Lehrer erbringen tagtäglich Höchstleistungen im Unterricht und danach«, betont Helmut Holter, Ressortchef für Bildung in Thüringen und Präsident der Kultusministerkonferenz im Jahr 2018. Der Beruf müsse in der Öffentlichkeit stärker gewürdigt werden, denn mit ihm gehe »eine ungeheuer große Verantwortung einher«, betont der Politiker der Linkspartei.

Für Heinz-Peter Meidinger, der dem Deutschen Lehrerverband vorsitzt, kommen die schlechten Imagewerte nicht überraschend. Er moniert die entgegen gängiger Klischees langen Arbeitszeiten von im Schnitt 45 Stunden pro Woche, zudem die begrenzten Möglichkeiten des beruflichen Aufstiegs - und fürchtet, dass die negativen Ergebnisse der Varkey-Studie den Kampf gegen den vorherrschenden Mangel an Lehrkräften zusätzlich erschweren. Die Kritik, die in den Befragungen zum Ausdruck kommt, ist teils durchaus berechtigt. Sie beruht nicht nur auf Neid oder Vorurteilen. Denn die misslichen Zustände im deutschen Bildungssystem, mit denen sich Kinder wie Eltern auseinandersetzen müssen, sind offensichtlich und seit langem bekannt: der schlechte Zustand vieler Schulgebäude, volle Klassen, überfrachtete Lehrpläne und unzureichend qualifizierte Lehrkräfte.

Die Ursachen dieser Misere liegen auch in einer wenig vorausschauenden politischen Bildungsplanung, die sich in den letzten Jahrzehnten bei den Prognosen der zu erwartenden Eingeschulten ständig verkalkuliert hat. Gerade müssen die zuständigen Behörden der Bundesländer wieder - angesichts von gestiegener Geburtenrate und mehr Kindern aus Zuwanderungsfamilien - in großem Umfang auf Quereinsteiger*innen zurückgreifen. Überall laufen entsprechende Kampagnen, mal mehr und mal weniger originell: Nordrhein-Westfalen wirbt plakativ für einen »Job mit Pultstatus«, Mecklenburg-Vorpommern bemüht Küstenpoesie und bittet inständig: »Sei unser Lehrer, wenn du einen festen Ankerplatz suchst«. Anderswo werden Pensionäre zurückgeholt oder Frühverrentungen hinausgeschoben. In Berlin, wo sich besonders dramatische Engpässe zeigen, hat inzwischen nur noch jede*r dritte Neueingestellte ein Lehramtsstudium absolviert, an den Grundschulen ist es sogar nur noch jede*r Zehnte.

Doch auch, wer gut ausgebildet ist, hat diesen Beruf gar nicht so selten mit falschen Vorstellungen über die künftige Tätigkeit gewählt. Lehramtsstudierende denken vor der Einschreibung zum Beispiel oft wenig darüber nach, ob ihre Persönlichkeit den pädagogischen Anforderungen gewachsen ist. Entsprechende Eignungstests, wie sie etwa in Finnland zum Standard gehören, sind in Deutschland bisher nicht üblich. Erst im Referendariat, wenn die Hochschulabsolvent*innen nach dem ersten Staatsexamen plötzlich vor den Klassen stehen, kommt zuweilen das böse Erwachen - und die dann zu späte Erkenntnis, im falschen Film zu sitzen. Die individuelle Konsequenz heißt dann bisweilen lebenslanger Dienst nach Vorschrift und wenig schulisches Engagement über das Notwendigste hinaus.

Auch das trägt bei zu dem hierzulande oft fehlendem Respekt gegenüber dem schulischen Personal, den die aktuellen Befragungen ergeben haben. Und zur Beharrlichkeit des Stereotyps von den »faulen Säcken«.

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