Vertrauen in die Polizei verloren

In Hessen häufen sich die Vorfälle mit mutmaßlich rechtsradikalem Hintergrund. Nun sind die davon Betroffenen gemeinsam aufgetreten

  • Marcel Richters, Frankfurt am Main
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt, denn das Thema beschäftigt offenbar viele Menschen in Hessen. Es ging am Montagabend in Frankfurt am Main um Solidarität mit Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Sechs Gäste waren zur Veranstaltung in den Räumen der Hilfsorganisation Medico International geladen. Seda Başay-Yıldız, Anwältin aus Frankfurt, hatte vor wenigen Wochen deutschlandweit Bekanntheit erlangt, weil sie Drohschreiben unterschrieben mit »NSU 2.0« erhalten hatte. Ebenfalls als Betroffener sprach Abdulkerim Şimşek, der Sohn des ersten Opfers der rechtsradikalen NSU-Terroristen, Enver Şimşek. Er war während des NSU-Prozesses in München von Başay-Yıldız vertreten worden.

Kris Simon vom Mietshäuser Syndikat Rhein-Main berichtete von ihren Erfahrungen mit Justiz und Polizei. Mehrere alternative Wohnprojekte und Häuser des Syndikats im Rhein-Main-Gebiet waren 2018 Ziel von mutmaßlichen Brandanschlägen geworden.

Michael Weiss vom Blog NSU-Watch Hessen erläuterte die Kontinuität rechtsextremer Strukturen in Hessen. Außerdem sprachen der ehemalige hessische Justizminister, Rupert von Plottnitz (Grüne), und die Schriftstellerin Esther Dischereit.

Schon bei ihren ersten Worten war Başay-Yıldız die Ungläubigkeit darüber anzumerken, was ihr in den letzten Monaten widerfahren war. Drohschreiben sei sie als Anwältin von Islamisten und der NSU-Opfer gewöhnt, aber das Fax, welches sie im August 2018 erhielt, habe eine neue Qualität gehabt. Ihre Tochter und sie selber wurden persönlich bedroht, unter Nennung ihrer privaten Anschrift. Der Staatsschutz sei anfangs davon ausgegangen, dass die Drohschreiben von den Nachbarn der Anwältin stammten. Erst Wochen später erfuhr Başay-Yıldız aus der Presse, dass die Todesdrohungen wohl aus den Reihen der Polizei stammten. Von wem genau, ist bis heute nicht geklärt. Die beschuldigten Beamten schweigen.

Auch Abdulkerim Şimşek hat Rassismus erlebt und schlechte Erfahrungen mit den sogenannten Sicherheitsbehörden gemacht. Zehn Jahre hätten er und seine Familie nach dem Mord an seinem Vater im Zentrum der Ermittlungen gestanden. Dabei sei sein Vater ein unbescholtener Blumenhändler gewesen. »Die Polizei hat uns jahrelang fertiggemacht. Wir haben sehr darunter gelitten«, berichtete Şimşek. Hat er Hoffnung, dass die Verantwortlichen in Justiz, Polizei und Verfassungsschutz zur Rechenschaft gezogen werden? »Null. Wir haben in dem Prozess nichts erreicht. Nachher ging es uns noch schlechter als davor.« Während Başay-Yıldız bewusst die Öffentlichkeit sucht, weil sie sich Schutz erhofft, sieht Şimşek darin keinen Sinn mehr. Er habe die Öffentlichkeit erreicht, aber auch das bringe nichts mehr.

Kris Simon und das Mietshäuser Syndikat dagegen suchen Aufmerksamkeit für das, was sie erlebt haben. Bereits früh sei den Mitgliedern der Wohnprojekte klar gewesen, dass es sich um eine Anschlagsserie handle, darum habe man eine Pressemitteilung veröffentlicht. Die Behörden hätten diesen Verdacht aber nicht ernst genommen. Simon sieht einen größeren Zusammenhang. »Das hat Geschichte in der BRD, dass man Rechtsradikale und Anschläge verharmlost. Es hat keinen Bruch gegeben nach dem Terror des NSU.«

Michael Weiss verwies ebenfalls auf die Kontinuität der rechten Gewalt in Hessen. Im Jahr 2000 seien ein Antifaschist und seine Familie nur durch Zufall einem Bombenanschlag entgangen. Die unter seinem Wagen befestigte Bombe sei wegen mangelhafter Konstruktion nicht detoniert.

Allen Betroffenen sind die Verzweiflung, die Wut und die Verwunderung anzumerken. Die Verzweiflung darüber, vom Rechtsstaat alleingelassen, sogar als Schuldige dargestellt worden zu sein. Die Wut darüber, zu wissen, dass ihnen kein Glauben geschenkt wird. Die Verwunderung darüber, dass das Versprechen von Gerechtigkeit eine Lüge ist.

Vor diesem Hintergrund stellte Esther Dischereit die Fragen: »Wer arbeitet in der Justiz, wer qualifiziert sich für den Polizeidienst?«, wenn rassistische Strukturen nicht auffielen. Derzeit wird in Hessen gegen zwölf Beamte in drei verschiedenen Verfahren ermittelt. Neben der Chatgruppe Frankfurter Polizisten und den Drohfaxen an Başay-Yıldız geht es in weiteren Verfahren um die Weitergabe von Daten sowie in einem um Nazi-Devotionalien und Volksverhetzung. Ob und wie sie zusammenhängen, ist jedoch noch nicht klar.

Lediglich Rupert von Plottnitz wollte vor diesem Hintergrund während der Podiumsdiskussion kein strukturelles Rassismusproblem in der hessischen Polizei erkennen.

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