Sozialistischer Kompass, vertiefte Demokratie

Zum Tod des US-Marxisten Erik Olin Wright

  • Tom Strohscheider
  • Lesedauer: 8 Min.

Seine schwere Krankheit hat Erik Olin Wright genommen wie er stets die Wirklichkeit nahm: als etwas, dem man am besten mit analytischer Schärfe, mit großen Fragen und doch mit einem Humor begegnet, der die Schwierigkeiten ertragen lässt. Er hatte viele Menschen um sich im Krankenhaus, vor ein paar Tagen noch bat man aus seinem engen Umfeld, sich für Besuche doch bitteschön anzumelden: »Erik sagt das nicht, damit weniger Leute kommen, sondern nur um sicherzustellen, dass die auch in die Wohnung passen«.

Bis zum Ende, bis eine akute myeloische Leukämie zu stark war, blieb er umgeben von Freunden, von politischen Mitstreitern, von Schülern. »Socializing to the end«, so hat es Harry Brighouse in seinem Nachruf formuliert. Natürlich wussten alle, wie die Krankheit ausgehen könnte, aber wer war schon »really ready for the news«?

Auf besondere Weise, so schreibt Michael Brie von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, habe Erik das, »was Ernst Bloch den Kältestrom des Marxismus nannte, mit dem Wärmestrom emanzipatorischer Visionen« verbunden. Für die Neue akademische Linken in den USA war er mehr als wichtig, nicht zuletzt, weil er dem analytischen Marxismus »zu Einfluss und Wirksamkeit verholfen« hat.

Wärmestrom emanzipatorischer Visionen

Erik hat im Laufe seiner Karriere »Hunderte von Studenten« auf neue Ideen gebracht, sie beraten, hat sich in akademische Gefechte geführt und unterstützt. Seinen Einfluss, so schreibt es Adam Szetela im »Dissent Magazine«, habe man in der jüngeren Zeit »in der Arbeit von Vivek Chibber, Peter Frase und anderen« spüren können, das wiederum hat sich auf Projekte wie »Jacobin« und »Catalyst« ausgewirkt. Hier ist Chibbers Nachruf auf Erik zu finden.

Von einer »neuen Welle sozialistischer Intellektueller«, ist da die Rede. Erik gehörte zu denen, die auf das Wasser geschlagen hatten, um sie anzutreiben. »Non-Bullshit Marxism« oder auch NBSMG, so lautete eine Selbstbeschreibung jener Runde von Leuten, die hinter diesem analytischen Marxismus standen. Für Erik ein wichtiger bezugspunkt seienr akademischen Karriere, er hat das in diesem biografischen Essay beschrieben. Wer mehr über diese »Schule« wissen will, möge Philippe Van Parijs’ Stichwort »Analytical Marxism« lesen.

Es gibt zum Glück ein paar Linke, für die ist Erik Olin Wrights »Envisioning Real Utopias« – auf Deutsch bei Suhrkamp 2017 als »Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus« erschienen – eines jener sechs, sieben Bücher, die eine intellektuelle Biografie prägen, die immer im Kopf mit dabei sind, nicht als Lehrbuch, nicht als Bibel, sondern weil darin eine Methode, ein Herangehen vorgeschlagen wird, das tiefe Spuren in der eigenen Denkungsart hinterlässt.

Non-Bullshit Marxism

Als Erik 2012 sein Amt als Präsident der US-Amerikanischen Vereinigung der Soziologinnen und Soziologen antrat, sprach er über den Ansatz, den er erkundete, »um soziologisch über emanzipatorische Alternativen zu dominanten Institutionen und sozialen Strukturen nachzudenken. Der Schwerpunkt liegt vor allem auf dem Problem von Alternativen zum Kapitalismus, aber vieles ließe sich gleichfalls auf andere dominante Institutionen anwenden. Das nun Folgende soll zu einer normativ gegründeten Soziologie des Möglichen, nicht nur des Gegenwärtigen, beitragen.«

Später erschien auf Basis der Rede ein Text in einem Sammelband bei VSA Hamburg: »Mit Realutopien den Kapitalismus transformieren?« Das Fragezeichen war in der Überschrift zu Eriks Beitrag verschwunden: »Durch Realutopien den Kapitalismus transformieren«. Nicht weil da nun schon wieder irgendein Wahrheitsanspruch durch die Gegend getragen werden sollte, nicht weil schon wieder alle Antworten ganz genau gewusst wären – so etwas lag ganz außerhalb des Denkens von Erik.

Sondern weil er eine Idee von Utopie hatte, die ganz auf dem Boden der kritisch analysierten Wirklichkeit steht, die ein moralisch begründetes Fundament hat und die als eine Art »sozialistischer Kompass« dienen sollte beim Vorangehen. Und Erik Olin Wright wusste: Die meisten Fragen wird man erst beim Gehen finden.

Ein sozialistisches Forschungsprogramm

Was er hinterlässt, ist ein sozialistisches Forschungsprogramm, das fortzusetzen ist. Etwas, das mehr ist als das viel gescholtene akademische Um-sich-selbst-Drehen, aber auch mehr als die bloße Praxis um der Praxis Willen – es ging bei Erik um »Wege zu einem Sozialismus gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit«. Im Kern, schrieb er einmal, »dreht sich der Vorschlag darum, die Machtverhältnisse in der Ökonomie so zu verändern, dass die Möglichkeit einer ernsthaften Demokratie vertieft und erweitert wird.« Das liegt auf einer Linie, die – keineswegs gerade und auch gar nicht durchgehend – man bis zu Eduard Bernstein ziehen könnte, der die Demokratie als »das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus« bezeichnet hatte.

Auch bei Erik Olin Wright war damit eine Vorstellung einer Alternative verbunden, die jenseits von Kapitalismus und Etatismus steht: »Kapitalismus bezeichnet eine Struktur, in der die Produktionsmittel in Privateigentum sind und in der Allokation und Gebrauch von Ressourcen Resultat privater Machtausübung sind. Etatismus ist eine Struktur, in der die in Staatseigentum und Allokation und Gebrauch von Ressourcen Resultat staatlicher Machtausübung sind.«

Das Demokratische ins Zentrum

Sozialismus dagegen verstand Erik als »eine Struktur, in der die Produktionsmittel in Gesellschaftseigentum übergegangen sind und Allokation und Resscourceneinsatz sich aus der Ausübung ›gesellschaftlicher Macht‹ ergeben«, wie er das einmal in »Das Argument« skizzierte.

Damit rückt das Demokratische ins Zentrum sozialistischer Vorstellungen. Demokratie ist für Erik »ihrem Wesen nach ein sozialistisches Prinzip. Wenn sie einen Prozess der Unterordnung staatlicher unter gesellschaftliche Macht bezeichnet, dann Sozialismus die Unterordnung ökonomischer unter gesellschaftliche Macht. Dieses Bild eines in gesellschaftlicher Macht verankerten Sozialismus ist vom Konventionellen Sozialismus weit entfernt.«

Eine Blaupause sollte daraus nie entstehen, seine Überlegungen hat Erik Olin Wright vielmehr aus der kritischen Analyse von Realutopien gezogen, so nannte er das, was »in dieser oder jener Hinsicht radikalere, emanzipatorische Alternativen« vorwegnimmt; Vorboten also, Inseln möglicher Zukünfte.

Keine Hauptstraße zum Sozialismus

Erik meinte damit Experimente mit partizipativen Haushalten, Projekte nicht-hierarchischer wirtschaftlicher Kooperation, Solidarity Funds, Genossenschaften, Betriebe in Belegschaftshand und so weiter. »Manchmal sind sie im Kontext von politischen Kämpfen geschaffen worden; in anderen Fällen entstehen sie leise, ohne scharfe Konfrontation. Manchmal befinden sie sich im offenen Konflikt mit dominanten Institutionen; ein anderes Mal besetzen sie Nischen innerhalb des sozioökonomischen Systems, Nischen, die keine Bedrohung darstellen.«

Man sieht hier, dass es für Erik Olin Wright keine Hauptstraße zum Sozialismus gibt, keinen privilegierten Pfad, sondern viele Wege zur »gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit«. Im Ergebnis seiner Forschungsarbeit hat er sieben solcher Grundrichtungen beschrieben – vom etatistischen Sozialismus, der das Problem der Ausübung ökonomischer, privater Macht auf den Staat eher verlagert denn »löst«, über die klassische sozialdemokratische Regulierung, die ökonomischer Macht über den Staat gesellschaftliche Grenzen setzt, bis hin zu Sozialökonomie und Solidargenossenschaften.

Pluralismus, Heterogenität und Optimismus

Keiner dieser Wege ist für sich allein ein Modell, sie überkreuzen ineinander, beeinflussen sich gegenseitig, stehen Mal in Konkurrenz und mal bestärken sie das Vorankommen. Man kann kein Rezept aus Eriks Analyse von Realutopien destillieren. Man kann aber klüger werden, was das Herangehen an Veränderung betrifft.

Wo ein sich radikal gebender Antikapitalismus glaubt, »dass das entschiedene Brechen der Macht des Kapitals weniger eine Konsequenz jeder ernsthaften Bewegung in Richtung Sozialismus als deren Vorbedingung sei«, setzte Erik Olin Wright darauf, verschiedene demokratische Strategien der Ausweitung des gesellschaftlichen Interesses gegen die private Aneignungslogik und die aus ihr resultierende Macht zu kombinieren. Verbunden ist das bei Erik mit dem »Bekenntnis zu institutionellem Pluralismus und Heterogenität«. Nicht »vereinheitlichtes institutionelles Designs des Hinausgehens über den Kapitalismus« ermöglicht »soziale Ermächtigung«, sondern diese braucht »Raum für eine hohe Diversität von institutionellen Formen« – nicht zuletzt, weil das einen »strategischen Pluralismus der Praxen der Transformation« ermöglicht.

Wir wissen gar nicht, das hat Erik immer wieder betont, wo im Kapitalismus die Grenzen sozialistischer Experimente verlaufen. Es sei leicht, pessimistisch zu sein, hat er einmal geschrieben. Und damit zugleich für ein bisschen trotzigen Optimismus appelliert: »Die Spielräume könnten auch viel größer sein, als wir heute denken.«

Das Nachdenken über diese Spielräume, das Ausprobieren von Realutopien, das Finden von Strategien, die der Komplexität von Wirklichkeit gerecht werden und eine dialektische Gelassenheit, die sich von den Widersprüchen nicht bange machen lässt, sondern sie fröhlich politisiert – als das wird nun ohne Erik Olin Wright weitergehen müssen und zugleich wird er immer dabei sein.

Dieser Text ist zuerst im Oxi-Blog erschienen.

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