Vergessene Opfer des Faschismus

Dieter Korczak erforschte das Schicksal der Bernauer Sinti und Roma in der Nazizeit.

Dieter Korczak bei der Buchpräsentation in Bernau
Dieter Korczak bei der Buchpräsentation in Bernau

Bei den Behörden greift ein juristisch abgesicherter Zynismus um sich, und in der Bevölkerung dominieren Apathie und Denunziantentum.« So denkt heute der Bürgermeister von Bernau bei Berlin, André Stahl (LINKE), über die Situation in der Zeit um das Jahr 1939. Auf beklemmende Weise wird ihm das deutlich, wenn er liest, was Dieter Korczak über die Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma schreibt, die damals in Bernau lebten. »Überfällig« nennt Bürgermeister Stahl diese Veröffentlichung.

Dieter Korczak ist Soziologe. Er promovierte an der Universität Köln. Seit 2014 lebt er in Bernau. Mit dem Schicksal der Juden im Ghetto im polnischen Łódź hat er sich 2010 in dem Band »Spurensuche« befasst. Das Schicksal der Bernauer Juden war da bereits erforscht. 24 sind in der Nazizeit deportiert worden und fast alle umgekommen. In Bernau gibt es eine vielfältige Erinnerungskultur. Doch die Sinti und Roma waren vergessen.

Korczak hat sich der Sache angenommen, hat im Stadtarchiv und im Landeshauptarchiv Dokumente gesichtet und weitere Quellen zusammengetragen. Historische Fotos konnte er leider ebenso wenig auftreiben wie Erinnerungsberichte. An Hinterbliebenen war er bereits nahe dran. Diese wünschten aber keinen Kontakt. So blieb Korczak fast keine andere Wahl, als die Fakten nüchtern zu schildern. Dennoch gelingt es ihm, ein sehr plastisches Bild vom Schicksal der Familien Schopper, Braun, Rose, Schmidt und Friedrich zu zeichnen. Seine Dokumentation erschien vor wenigen Tagen in einer Auflage von 1000 Exemplaren. Den Druck bezahlte die Stadt Bernau. Erhältlich ist das Bändchen gegen eine Schutzgebühr von zwei Euro im Museum oder bei der Touristinformation. Das decke selbstverständlich nicht die Kosten der Publikation, bestätigt der Autor. Doch der Preis sei bewusst möglichst niedrig gehalten worden, um für eine weite Verbreitung zu sorgen.

Die Lektüre ist auf jeden Fall zu empfehlen. Korczak startet mit einem kurzen Abriss zur Herkunft der Sinti und Roma, in dem er darauf eingeht, woher der heute deutlich als abwertend empfundene, aber leider immer noch verwendete Begriff »Zigeuner« stammt. Die Sinti und Roma haben sich selbst nie so genannt. Sie lehnen diese Bezeichnung wegen ihrer rassistischen und diskriminierenden Einfärbung ab.

Die Nazis unterteilten in »Zigeuner«, »Zigeunermischlinge« und »nach Zigeunerart umherziehende Menschen«. Diese wurden als asozial eingestuft und durften sich nach einem Runderlass von SS-Reichsführer und Polizeichef Heinrich Himmler vom Dezember 1938 nicht mehr frei bewegen. Die 52 Betroffenen, die in Wohnwagen auf dem Bernauer Bahnhofsvorplatz lebten - wahrscheinlich ungefähr dort, wo heute das Fahrradparkhaus steht -, konnten nicht mehr weiterziehen. Es waren sechs Familien. Zwei weitere Familien wohnten an anderer Stelle, im Blumenhag. Ein Bürger, der sich von den Wohnwagen am Bahnhof gestört fühlte, sah eine Chance zur Vertreibung dieser Menschen. Zunächst stellte die Polizei jedoch fest, dass es sich um ein gemietetes Privatgrundstück handle. Außerdem seien die Wohnwagen nicht zu beanstanden, vielmehr befinde sich nur der Platz in einem unwürdigen Zustand. Es gebe keine Handhabe.

Später versuchte die Stadtverwaltung, die Sinti und Roma auf ein abgelegenes Grundstück abzuschieben. Das scheiterte aber am fehlenden Baumaterial für Wasserentnahmestellen und Toiletten. Allein der Einwand von Oskar Schopper, die Männer seien beruflich so eingespannt, dass sie nicht noch in ihrer Freizeit das vorgesehene Gelände planieren könnten, hätte wahrscheinlich nichts genutzt. Männer und auch Frauen arbeiteten seinerzeit bei einer Kistenfabrik, auf einer Baustelle, für einen Schausteller und bei einem Händler in Berlin und in Bernau. Oswald Braun war Fuhrunternehmer, Oskar Schopper handelte mit Filzpantinen und Max Friedrich fertigte Musikinstrumente.

64 Sinti lebten 1942 in Bernau, mitgerechnet die Kleinkinder und Oskar Schopper, der bestritten hatte, ein »Zigeuner« zu sein, aber durch ein Gutachten der obskuren Rassehygienischen Forschungsstelle nichtsdestotrotz als ein solcher eingestuft wurde. 55 von ihnen wurden Anfang 1943 über Berlin-Marzahn nach Auschwitz deportiert, andere anderswo verhaftet. 34 sind nachweislich im Konzentrationslager umgekommen, nur 18 haben gewiss überlebt, die übrigen wurden wahrscheinlich auch ermordet, sagt Korczak.

Wie der Autor die Lebenswege der Familien nachzeichnet, das begrüßt Petra Rosenberg, Vorsitzende des Landesverbandes der Sinti und Roma. »Macht doch eine Personalisierung das Grauen der Erniedrigung und Vernichtung erst wirklich nachvollziehbar«, erklärt sie. Dass diese Schrift erst jetzt erscheine, möge verspätet erscheinen, sei aber angesichts täglicher Meldungen über neonazistische Aktivitäten von »beunruhigender Notwendigkeit«.

Dieter Korczak: »Sinti und Roma in der Stadt Bernau bei Berlin«, 68 Seiten, für zwei Euro erhältlich bei der Touristinformation, Bürgermeisterstraße 4 in 16 321 Bernau, Tel.: (033 38) 36 53 65, montags bis freitags von 10 bis 17 Uhr

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