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  • "Gehen oder Der zweite April"

Abschied ohne Wiederkehr

Was ist der beste Tod? »Gehen oder Der zweite April« am Hans-Otto-Theater Potsdam

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Auf die Welt zu kommen, entzieht sich unserer Entscheidung. Hier stimmt Heideggers Wort vom »Geworfensein« unserer Existenz durchaus, auch wenn er damit wohl nicht allein die simple Tatsache meinte, dass wir erst in die Welt gesetzt werden und uns dann - viel später - dieser Tatsache bewusst werden. Was also tun? Uns abfinden damit, dass wir nun mal da sind.

Aber wie der unvermeidlichen Tatsache entgegen sehen, dass wir die Welt auch wieder verlassen müssen? Mit demütiger Schicksalsgläubigkeit, dass uns das Wann und Wie zwar etwas angeht, aber nur die Betroffenen? Endet beim Tod unsere aufklärerische Autonomie, die Entscheidungshoheit über uns selbst? Das sind die Fragen im Stück »Gehen oder Der zweite April« von Jean-Michael Räber, das Frank Abt am Hans-Otto-Theater Potsdam inszeniert. Es handelt vom geplanten gemeinsamen Freitod eines alten Ehepaares, das selbst über sein Ende entscheiden will.

Das Stück ist ebenso provokant wie das Thema selbst. Hier ist nichts versöhnlich, vielleicht weil es eine Grenze zwischen Leben und Tod gibt, die man nur einmal überschreitet. Ein Gang ohne Wiederkehr. Das macht uns Angst. Und trotzdem gehen immer wieder Menschen aus freien Stücken, deren Frist noch nicht abgelaufen ist. Deren Leiden - in der Perspektive der Umwelt zumindest - nicht so groß war, dass es nicht noch länger auszuhalten gewesen wäre. Aber wer entscheidet das, zumal wenn die Lebensmüdigkeit übergroß geworden ist? Die Lebensdauer ist schließlich kein Wettkampf, bei dem, der als letzter übrigbleibt, den ersten Platz belegt.

Aber das Geschenk des Lebens freiwillig und vorzeitig aus der Hand zu geben, erscheint uns als Frevel. Für uns ist es zumeist eine Art Wegwerfen, das den Zurückbleibenden einen übergroßen Schmerz bereitet. Man spricht sogar von Selbstmord, dabei sind die Mordmerkmale (im Unterschied zur fahrlässigen Tötung oder Totschlag) eindeutig definiert: niedere Beweggründe, Vorsatz, Heimtücke und besondere Brutalität. Davon kann bei einem Suizid wohl keine Rede sein.

All diese zum Thema Freitod gehörenden Fragen spielen in »Gehen oder Der zweite April« eine Rolle. Lore und Arno beschließen an diesem Tag gemeinsam Gift zu nehmen. An einem zweiten April haben sie sich vor Jahrzehnten kennen gelernt und nun wollen sie auch an einem zweiten April aus dem Leben scheiden. Auch weil Arno immer stärker an Gedächtnisverlust leidet, vermutlich ist es der Beginn von Alzeimer. Bei ihren Freunden erleben sie zudem, dass nach und nach einer nach dem anderen plötzlich zum Pflegefall wird, über den dann andere entscheiden: ein langes qualvolles Sterben.

Wir Lebensoptimierer sind umgeben von der Not des Sterbens. Aber wer gibt das schon gern zu. Leonard Cohen etwa hat mit seinem letzten Album »You want it darker«, kurz vor seinem Tod, sich bewusst auf eine ihm gemäße Weise vom Leben verabschiedet: »I’m leaving the table«. Ist das denn so einfach, man steht auf und verlässt den Tisch, an dem man bis eben mit anderen gesessen hat? Man kann es so sehen, auch tun - der Publizist Fritz J. Raddatz etwa, der bei Lesungen zunehmend leichte Ausfallerscheinungen an sich bemerkte, die das Alter auch eitlen Menschen bereitet, fuhr daraufhin mit dem ICE nach Zürich (in der Schweiz ist Sterbehilfe eine Art Freitodhilfe für jedermann) und trank den Giftbecher wie vielleicht am Abend zuvor noch einen Drink an der Hotelbar. Ist das nun ein gutes Ende?

Goethe oder auch Elias Canetti hassten den Tod, lehnten jeden Gedanken an ihn ab. Wo Leben ist, ist kein Platz für den Tod, und wo der Tod ist, ist kein Leben mehr. Die Romantiker sahen das anders, kultivierten Grauzonen und Übergänge, ließen das Unheimliche, das Grauen, den Schmerz als Thema zu - trieben die Einfühlung in den Tod mitunter bis zu einer Art Todessehnsucht. Und auch Goethe selbst hat mit den »Leiden des jungen Werther« einst ungewollt eine wahre Epidemie von Selbsttötungen unter idealistischen jungen Menschen ausgelöst. Ein weites Feld, auch angesichts solcher Filme wie »Der müde Tod« von Fritz Lang: selbst diejenigen, deren Lebenslicht nur noch ganz schwach flackert, wollen nicht eine Minute der schwindenden Zeit hergeben.

Rita Feldmeier als Lore und Joachim Berger als Arno gehen sicheren Schritts über den schmalen Grat, der über das Gelingen eines Theaterabends zu einem so grundsätzlichen Thema entscheidet. Frei von aller Pathetik, so sachlich-aufgeklärt, fast beiläufig wie es allen - scheinbar - am leichtesten fällt. Wir gehen!, sagen sie ihren drei erwachsenen Kindern beim extra einberufenen Familienessen. Wohin denn?, fragen die ahnungslos zurück. Nein, diese Grenze, von der hier die Rede ist, lässt sich nicht leicht nehmen. Als die Kinder begreifen, wovon die Rede ist, sind sie erst fassungslos, dann wütend.

Welch ein Akt der Lieblosigkeit, dass ihre Eltern sie einfach so zurücklassen wollen! Aber ihr seid doch längst erwachsen und lebt eurer eigenes Leben, antworten die ihnen. Schließlich wolle man ihnen nicht irgendwann zur Last fallen, was daran ist lieblos? Aber in dieser Situation werden Jan (Arne Lenk), Anna (Katja Zinsmeister) und Jule (Laura Maria Hänsel) wieder so hilflos wie alle Kinder mit ihrer Angst, dass ihnen ihre Beschützer genommen werden. Da hilft es nicht, dass Lore und Arno ihnen erklären, für die anfallenden praktischen Dinge wie Beerdigung etc. bereits vorgesorgt zu haben.

Am Anfang sehen wir zwei fast lebensgroße Puppen auf der Bühne von Michael Köpke, die einem drehbaren, halboffenen Kasten gleicht, dazu Live-Musik. Es sind die Schatten der Lebenden, Boten aus dem Totenreich. Eine junge Frau erzählt die Geschichte, Emma, die als sechsjährige Enkelin zufällig mitbekommen hat, wie die Eltern mit den Großeltern über deren bevorstehenden Tod stritten. Was sie hörte, das konnte sie nicht verstehen. Worüber reden die in so falsch abgeklärtem, sachlichen Ton, dass es sie schauderte?

Das Stück ist rückblickend aus ihrer Perspektive erzählt, auf eine Weise, die jede einfache Antwort als für zu klein auf die große Frage von Leben und Tod befindet. Wo endet unser Lebenserleichterungsprozess mit seiner reflexartigen Abwehr alles Schweren, von jeder Tragödie? Bei der Euthanasie? Dass man es sich nicht - jedenfalls nicht ungestraft - leicht machen darf damit, dass jederzeit fühlbar zu machen, ist ein großer Vorzug dieser klugen Inszenierung von Frank Abt.

Denn wie so oft geht, während wir unsere Pläne machen, das Leben auf seine unberechenbare Art weiter. Der lang geplante Doppel-Suizid von Lore und Arno gelingt nur halb. Auch dafür kennt man zahlreiche Beispiele, man denke an Johannes R. Becher, den dann der ungeliebte Vater vor der Justiz retten musste. Wie nennt man den Überlebenden eines misslungenen Doppel-Suizids? Gar ein Mörder?

Einer von beiden muss nun doch noch weiterleben - mit viel Schmerz und Schuld beladen.

Nächste Aufführungen: 23.2, 9.3., 17.3., 22.3.

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