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Ein Hühnerhof der Weltpolitik

Die Münchner Sicherheitskonferenz schafft ein Forum für globale Probleme, deren Lösung keinen Aufschub dulden

  • René Heilig
  • Lesedauer: 6 Min.

»Das große Puzzle: Wer nimmt die Stücke auf?« Unter diesem Titel erschien in dieser Woche der Munich Security Report 2019. Er bietet auf rund einhundert Seiten einen Überblick über wichtige sicherheitspolitische Themen und soll Impulsgeber für die zweitägigen Gespräche in der bayerischen Landeshauptstadt sein. Das Fazit des Berichts: Die gesamte liberale Weltordnung droht auseinanderzufallen. Und: Die globale Sicherheitslage sei derzeit labiler als jemals zuvor seit dem Zerfall der Sowjetunion. Die Weltpolitik stehe vor einem Epochenwechsel, und nur schemenhaft seien neue Grundlinien internationaler Beziehungen sichtbar. Die würden wesentlich bestimmt von den USA, China und Russland, doch auch Frankreich, Deutschland, das Vereinigte Königreich, Kanada und Japan übernähmen neue Rollen von globaler Wirkung.

Die jüngst von den USA und dann von Russland verfügte Aufkündigung des INF-Vertrages über das Verbot atomar bewaffneter landgestützter Mittelstreckenwaffen weisen auf die Notwendigkeit neuer globaler Rüstungskontrollen hin. Aber auch Fragen der Klimaentwicklung, des internationalen Handels, der Abwehr von Terrorismus und des transnationalen organisierten Verbrechens sowie Fortschritte bei der künstlichen Intelligenz stehen auf der Tagesordnung.

Brennpunkte
Neben der »neuen Ära der Großmachtrivalitäten zwischen den Vereinigten Staaten, China und Russland, gepaart mit einem gewissen Führungsvakuum in der sogenannten liberalen Weltordnung« (Wolfgang Ischinger) werden in München auch Probleme der Handelspolitik, des Klimawandels und des technologischen Fortschritts angesprochen. Themen bieten auch aktuelle Kriege und Krisen in Afghanistan, Syrien und in der Ostukraine. Neben dem Brexit steht auch die Staatskrise in Venezuela auf der Agenda. nd

Das alles sind Themen, die den Gastgeber der Konferenz, Wolfgang Ischinger, brennend interessieren. Er wird im April 73 Jahre alt und könnte sich eigentlich zur Ruhe setzen. Doch der Mann, der im Kabinett des damaligen UN-Generalsekretärs Kurt Waldheim gearbeitet hat, unter dem deutschen Außenminister Dietrich Genscher (FDP) Abrüstungsinitiativen entworfen und unter Außenamtschef Joschka Fischer (Grüne) Staatssekretär war, der dann als Botschafter in Washington und London für stabile transatlantische Beziehungen sorgte, will weiter Grundsteine eines geordneten internationalen Miteinanders legen. Seit 2008 leitet der Diplomat daher die Münchner Sicherheitskonferenz. Die kann man als Forum imperialer Mächte wider die legitimen Interessen der Menschheit geißeln, doch sie ist eines der noch wenigen verbliebenen Foren, auf dem Reste von Vertrauen genutzt werden, um Wege zu suchen, die an globalen Abgründen vorbeiführen.

Wenn ein Mann wie Ischinger, die Vorbereitung der diesjährigen Konferenz resümierend, im »Deutschlandfunk« davon spricht, dass die eingeladenen Staats- oder Regierungschefs »wie ein Hühnerhaufen, schwer unter Kontrolle zu halten sind«, dann sagt das einiges.

Bis zur letzten Minute war nicht klar, wer nach München kommt, wer im Forum (und am Rande) mit wem redet. Dass der US-Präsident kein Interesse an Entspannungsdebatten hat, war klar - und verunsichert dennoch Verbündete. Nicht vergessen ist, dass ausgerechnet der US-Präsident die Sinnhaftigkeit der NATO in Zweifel zieht, die EU verteufelt, Handelskriege anzettelt sowie Klimaabkommen killt. Und das selbstherrlich, ohne Rücksprache mit den »Freunden«. Donald Trump schickt seine Tochter Ivanka und seinen Vizepräsidenten Mike Pence nach München. Dass es in den USA jedoch weit mehr Interesse an der Konferenz gibt, lässt sich an der ungewöhnlichen Größe und Zusammensetzung der von der Vorsitzenden des Abgeordnetenhauses Nancy Pelosi geleiteten Delegation ablesen. Über 40 Mitglieder des Kongresses sowie rund ein Dutzend Senatoren haben sich angekündigt. Es wird spannend, wie sich die USA in München zweifach präsentieren.

Ähnlich zwiespältig ist das Interesse aus Russland. Ischinger freut sich über zahlreiche Anmeldungen aus Regierungskreisen, dem Parlament und von einschlägigen Instituten. Doch ob das reicht, um bei Streitpunkten politische Fortschritte zu erreichen, ist unwahrscheinlich. Doch nur so böte sich eine Chance, um bei der politischen Krisenbewältigung aus der Stagnation herauszukommen. Ähnlich hoffnungslos ist ein Blick über das Mittelmeer: Israels Staatschef Benjamin Netanjahu kommt nicht, doch gerade sein Erscheinen wäre notwendig, um die Streitigkeiten mit Iran einzudämmen und in Syrien Wege einer politischen Konfliktlösung zu ebnen.

Welche Hoffnungen ruhen noch auf Europa als ausgleichende Kraft? Vermutlich wenige. Der Gemeinschaft hängen die Bleigewichte des britischen Ausstiegs am Rock. Und Deutschland? Dass der blasse Außenminister Heiko Maas (SPD) in München die Interessen Europas und damit letztlich die der Menschheit vertritt, erwartet niemand.

Es ist fünf Jahre her, dass der damalige Bundespräsident Joachim Gauck, der heutige Amtsnachfolger und damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) in München dafür plädierten, dass Deutschland eine größere Verantwortung in der Welt übernimmt. Das hatte viel Beifall und ebenso viel Widerspruch hervorgerufen. Beide Seiten werden nach fünf Jahren nur feststellen können, dass Deutschland - nun Mitglied im UN-Sicherheitsrat - mehr denn je von Ereignissen getrieben wird, statt Politik zu gestalten.

Dass Angela Merkel als Nochregierungschefin der gastgebenden Republik spricht, ist normal. So normal schien es auch, dass Emmanuel Macron erscheint. Mit dem französischen Präsident hatte Merkel gerade das Aachener Abkommen für eine noch engere bilaterale Zusammenarbeit unterzeichnet. Doch Macron, der im vergangenen Jahr sein Kommen fest zugesagt hatte, gab Ischinger einen Korb. Warum? Offiziell heißt es, der Präsident müsse sich um innenpolitischen Schwierigkeiten kümmern.

Derzeit droht die so vielfältig proklamierte Selbstbehauptung der Europäischen Union in der Welt unterzugehen. Und zweifellos ist ohne Macron die Bedeutung der EU auch auf der Konferenz geringer. Dabei suchen Abgesandte aus allen Regionen in München nach Antworten zur proklamierten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Deren Nicht-Existenz ist breit gefächert: Wie erklären die Verantwortlichen aus Berlin in diesem Zusammenhang den Streit, der unter dem Stichwort Nordstream 2 abläuft? Die Erdgasleitung war nie nur ein simples Import-Export-Geschäft zwischen Russland und Deutschland. Dass sich nun sogar Frankreich gegen das Projekt stellte, war ein deutliches Achtungszeichen.

Anderes Thema: Wie wird die deutsche Verteidigungsministerin erklären, warum sie der Vision einer Europa-Armee die einer Armee der Europäer entgegensetzt? Auch bedarf das Verhältnis zwischen EU und NATO einer strategischen Klärung. Man kann der nuklearen Frage nicht ausweichen. Gerade ist in Berlin die Entscheidung gefallen, neue Kampfflugzeuge zu beschaffen, um künftig US-Atomwaffen abwerfen zu können. Zugleich versicherten sich Deutschland und Frankreich im Aachener Vertrag einen gegenseitigen militärischen Beistand. Kriecht Deutschland also unter einen zweiten Atomschirm? Oder werden erneut Debatten um eine eigene Verfügungsgewalt über solche »Sonderwaffen« beflügelt?

Gastgeber Ischinger legt großen Wert auf Gespräche zum Thema INF-Vertrag. Dessen beidseitige Kündigung sieht auch er als »große Belastung«. Und das nicht nur, weil der Diplomat die Verhandlungen zu diesem Abrüstungsregelwerk in den 1980er Jahren selbst intensiv begleitet hat. Er befürchtet nun eine verschärfte Konfrontation zwischen Washington und Moskau sowie zwischen Russland und den europäischen NATO-Mitgliedern.

So wünschenswert ein neuer INF-Vertrag wäre, die notwendige Einbindung von Pakistan, Indien, Nordkorea, Iran, Israel und andere Staaten, die Mittelstreckenwaffen entwickeln oder besitzen, ist derzeit eine Illusion. Real dagegen ist, dass nun auch die Fortsetzung des START-Prozesses, also die Weiterführung von Verhandlungen über US-amerikanische und russische interkontinentale strategische Waffen, ausbleibt. Das wäre, so Ischinger, »verhängnisvoll für alles, was wir nun seit Generationen an Kenntnissen und Erkenntnissen über die Notwendigkeit der Reduzierung militärischer Fähigkeiten zusammengetragen haben«.

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