Untergetaucht im Wembley

Erneut kommen die hoch gelobten Dortmunder in der zweiten Saisonhälfte an ihre Grenzen

  • Daniel Theweleit, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Schon bevor das Grauen zu voller Entfaltung kam, hatte Roman Bürki ein Gefühl der Verblüffung, der Bewunderung, des Schreckens übermannt. »Diese physische Präsenz«, staunte der Torhüter von Borussia Dortmund nach dem 0:3 (0:0) bei Tottenham Hotspur, als er nach den Hintergründen dieser Niederlage gefragt wurde. Es sei »ein Riesenunterschied, wie die aussehen und wie unsere Spieler aussehen«, stellte der Schweizer fest, er war offenbar von den englischen Gegnern schwer beeindruckt.

Gegen die wuchtigen Typen aus der Premier League hätten seine Mitspieler zudem permanent Zweikämpfe verloren, fuhr Bürki fort, was zusätzlich am Selbstbewusstsein genagt hätte. Mit jedem verlorenen Duell schrumpfte der BVB ein Stück weiter, und in der zweiten Hälfte gingen die Dortmunder unter wie ein Paddelboot, das versehentlich in den Sturm eines wilden Ozeans hineingeraten ist: hilflos, naiv, unbekannten Kräften ausgeliefert.

Dieser Abend von Tottenham, der im Rückspiel nun ein kleines Wunder erforderlich macht, damit Dortmund noch das Viertelfinale der Champions League erreicht, kann als Rückfall in die schwierige Vorsaison betrachtet werden. Auch damals fiel das schwarz-gelbe Konstrukt nach dem ersten Gegentor regelmäßig in sich zusammen. In London hatte die Mannschaft eine Halbzeit lang gut mitgehalten und eine gute Balance zwischen defensiver Stabilität sowie mutigen Momenten im Spielaufbau gefunden. Doch das 1:0 von Son Heung-Min unmittelbar nach der Pause raubte alle Zuversicht.

Selbst der in der Hinrunde noch als großer Stabilisator gefeierte Axel Witsel fand keinen Zugriff mehr auf das Spiel, die Mannschaft sei »nicht abgebrüht genug« gewesen, sie habe »sich ergeben«, viele Spieler seien »untergetaucht«, sagte Sebastian Kehl, Leiter der Lizenzspielerabteilung. Ein vernichtendes Urteil über ein Team, das im Sommer explizit mit dem Vorsatz zusammengestellt worden war, genau solche Einbrüche zu vermeiden.

Immer deutlicher wird, wie sehr Marco Reus fehlt, dessen Unnachgiebigkeit während der Hinrunde ein prägender Aspekt der Mannschaftsidentität war. Der Kapitän wird auch im nächsten Bundesligaspiel in Nürnberg ausfallen.

Aber vielleicht haben die Dortmunder noch einen anderen Aspekt unterschätzt: Das Team, das sich in London überrollen ließ, hat möglicherweise zu wenig Erfahrung im Umgang mit K.o.-Spielen auf diesem Niveau. Für die zentralen Mittelfeldspieler Thomas Delaney und Mahmoud Dahoud war es das erste Achtelfinale in der Königsklasse, Witsel stand zwar schon zum vierten Mal in dieser Runde, weitergekommen ist er aber nur einmal. Selbst für Trainer Lucien Favre handelt es sich um eine völlig neue Welt, ganz zu schweigen von jungen Spielern wie Dan-Axel Zagadou, Jadon Sancho oder Achraf Hakimi, der die Dortmunder Krisenwochen verkörpert wie kein Zweiter.

Schon in den zuletzt drei sieglosen Partien in Bundesliga und DFB-Pokal unterliefen dem Marokkaner folgenschwere Fehler. In London verlor er den Ball vor dem 1:0 tief in der eigenen Hälfte, vor dem 2:0 durch Jan Vertonghen erkannte er die Gefahr einen Moment zu spät und gab seinem Gegenspieler dadurch den entscheidenden Raum. »Achraf hatte heute sicher nicht seinen besten Tag, aber es war nicht allein sein Verschulden, dass wir hier 0:3 verloren haben«, versuchte Kehl den jungen Profi in Schutz zu nehmen, während Hakimi traurig und irgendwie einsam zum Mannschaftsbus schlich.

Die Leihgabe von Real Madrid muss offensichtlich eine schwere Zeit durchstehen, in der sehr viel kaputt zu gehen droht, auch wenn Ersatzkapitän Mario Götze die interessante These vertrat, dass »nur Kleinigkeiten« verändert werden müssten, um wieder diese großartige Mannschaft des vergangenen Herbstes zu werden. Er meinte wohl die Vermeidung der Fehler, die zu den Toren führten, aber Erfahrung, Mentalität und Krisenresistenz sind keine Kleinigkeiten in der Königsklasse.

Götzes Kommunikationsstrategie folgt offenbar dem Wunsch nach einer Deeskalation. Auch Favre versuchte der zunehmenden öffentlichen Hysterie mit demonstrativer Gelassenheit zu begegnen: »Ich mache mir keine Sorgen, solche Phasen gibt es in jeder Saison«, sagte der Trainer, der allerdings mitgenommen wirkte. Vielleicht war er noch gerädert von seiner Grippe, aber womöglich erkennt auch er, dass die vier sieglosen Partien der vergangenen Tage das Potenzial haben, den Rest der Saison zu prägen.

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