Eine unsichtbare Mauer

Israels großes Interesse am Brexit gilt nicht zuletzt den Grenzregelungen

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Grüne Linie ist eine unscheinbare Grenze. 52 Jahre ist es her, seit sich in Jerusalem zuletzt israelische und jordanische Soldaten gegenüber lagen; getrennt durch Stacheldraht und ein Niemandsland, aus dem niemand lebend heraus kam, der zwischen die Fronten geriet. Heute verläuft genau hier eine Straße, über die sich von früh bis spät der Verkehr zwischen den israelischen Siedlungen und Israel quält, bevor dann die Grüne Linie die Straße verlässt und unsichtbar durch Gärten, Plattenbauten, Parks und dann durch Felder, Wald und Wüste verläuft.

Die »Grüne Linie« heißt so, weil die einstige Waffenstillstandslinie zwischen Jordanien und Israel in israelischen Landkarten traditionell in Grün eingezeichnet war, bis die Hersteller auf Druck der israelischen Rechten die Grenze aus den Karten strichen: Damit werde ein Friedensabkommen mit den Palästinensern vorweg genommen, heißt es und auch: »Durch die grüne Linie wird Jerusalem in den Köpfen geteilt«, sagt der der Siedlerbewegung nahe stehende Bildungsminister Naftali Bennett.

Gerade waren mehrere Abgeordnete des rechtskonservativen Likud von Regierungschef Benjamin Netanjahu und Bennetts Fraktion »Jüdisches Heim« in Irland, um sich in Sachen EU-Austritt Großbritanniens zu informieren. Das Interesse am Brexit gründet nicht nur in der Hoffnung der israelischen Regierung, mit Großbritannien günstige Verträge auszuhandeln, und zwar ohne die Beschränkungen, die die EU für israelische Unternehmen in den besetzten Gebieten vorsieht. Auch die Frage des sogenannten Backstops interessiert viele israelische Politiker brennend, also die Grenze zwischen Nordirland und Irland, die künftig die Grenze zwischen der EU und Großbritannien markieren dürfte. Kann es eine Grenze geben, die unsichtbar ist, die offen ist und doch geschlossen?

Auf der israelischen Rechten, die vor allem aus ideologischen Gründen an Ost-Jerusalem festhält, ihre Ablehnung aber mit der Sicherheit begründet, befürchten viele, dass der Druck zunehmen wird, falls technische Lösungen für die Nordirland-Grenze gefunden werden und sich in der Praxis bewähren. Bislang argumentierte man, dass bei einer Zwei-Staaten-Lösung eine feste Grenze durch Jerusalem verlaufen müsse, weil sonst der Weg aus der arabischen Welt nach Israel frei wäre. Palästinensische Politiker und linke Israelis hoffen indes auf Lösungen: Dass mitten durch die Stadt keine sichtbare Grenze verlaufen soll, da sind sie sich einig.

An Lösungsansätzen wird schon seit Unterzeichnung der Osloer Verträge gearbeitet: Architekten und Sicherheitsexperten haben Pläne für eine Grenze entworfen, die durch Bäume, Sträucher, Felsen gesichert ist; an den Übergängen würden Kameras zumindest Fußgänger erfassen, elektronische Pässe auslesen. Doch für die Abfertigung von Fahrzeugen und Gütern hat man noch keine Antwort gefunden. Auch wenn beide Länder einen gemeinsamen Markt bildeten, müssten nach israelischen Vorstellungen mitten in der Stadt Grenzkontrollen stattfinden, weil man nach Hunderten von Anschlägen kein Vertrauen in volle Bewegungsfreiheit hat. Das aber lehnt die palästinensische Führung ab.

»Die Situation in Nordirland ist bis zu einem gewissen Grade mit der Situation in Jerusalem vergleichbar«, sagt Jossi Beilin, der Anfang der neunziger Jahre als Justizminister für die sozialdemokratische Arbeitspartei die Osloer Verträge mit aushandelte. Doch in der alles entscheidenden Frage erzielte man nicht nur keine Einigung, man versuchte es erst gar nicht ernsthaft. »Der Gedanke, dass durch Jerusalem wieder Stacheldraht verlaufen könnte, war einfach zu mächtig; es wäre wohl alles andere daran gescheitert«, so Beilin. Und dass ohne Grenze im Osten die Palästinenser und im Westen die Israelis ihr Ding machen, das konnte sich damals niemand vorstellen. Jahrzehntelang hatten israelische Regierungen und die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO kaum einen Ton miteinander gesprochen; bis zur Unterzeichnung der Verträge hatte man nur wenige Tage zusammen in einem Raum verbracht. Und kurze Zeit später malte Benjamin Netanjahu, damals noch recht unbekannt, das Schreckensszenario von iranischen Truppen, die direkt vor Israels Tür stehen.

Heute ist er Regierungschef, in seiner Partei gilt als Konsens, dass die Osloer Verträge gescheitert sind. Zwischen Westjordanland und Israel verläuft ein Sperrwerk aus Mauern und Zäunen, oft weit östlich der Grünen Linie und in Jerusalem mitten durch die arabischen Stadtteile. Das »ungeteilte Jerusalem«, das gern betont wird, existiert in der Realität nicht. Die Sperranlage habe Leben gerettet, heißt es zur Rechten - eine Ansicht, die allerdings der israelische Sicherheitsapparat nicht teilt: Es seien die Zusammenarbeit mit den palästinensischen Sicherheitsdiensten und die verbesserten Ermittlungsmethoden, die Anschläge verhindern, sagt ein Sprecher des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth.

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