Rätselhafter Status-Quo-Bias

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: ca. 1.5 Min.
Man kann es den Leuten tausendmal erklären: Es ist gut für alle, wenn sich das Volkseinkommen am oberen Rand der Gesellschaft sammelt. Es ist im Interesse der Arbeitnehmer, wenn Schutzbestimmungen geschleift werden; es nützt der ganzen Menschheit, wenn Arbeiter erst länger auf ihren Ruhestand warten und anschließend weniger Rente dafür bekommen. Das Dumme: Die Canaille weigert sich, all diese »für Fachleute mit unabweisbarer Notwendigkeit« evidenten Tatsachen als solche anzuerkennen. Warum aber dies? Höchste Zeit für eine wissenschaftliche Untersuchung auf dem Felde der Sozialpsychologie. Durchgeführt hat diese jetzt das »Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung« (ZEW) - mit einem naheliegenden Ergebnis: Die Leute müssen irgendwie verblödet sein, sich dauerhaft den segensreichen Prämissen der neoklassischen Orthodoxie zu verschließen. Die vorliegenden »Abweichungen von den Annahmen strenger Rationalität des Homo Oeconomicus« lassen sich den ZEW-Leuten zufolge unter drei verhaltenspsychologische Begriffe fassen: »Status-Quo-Bias«, »Verlustaversion« und »Framing-Effekt«. Letztere bezeichnen dabei »die Beobachtung, dass die synonyme Darstellung ein und desselben Sachverhalts zu unterschiedlichen Entscheidungen führen kann« - 90 Prozent Überlebens-chance klingt besser als zehn Prozent Sterbensgewissheit. Mit »Verlustaversion« sei gemeint, dass sich Menschen über 100 verlorene Euro mehr ärgern als sie sich über 100 gefundene Euro freuen würden. »Status-Quo-Bias« nennen die ZEW-Leute die vermeintliche Tatsache, dass »Menschen nur deshalb einer Option unter vielen den Vorzug geben, weil diese aus einer historischen Zufälligkeit heraus zum Status Quo geworden ist«. Nun sind wegzureformierende Arbeitsschutzbestimmungen und Sozialmaßnahmen erstens nicht Resultat geschichtlicher »Zufälligkeit«, sondern historischer Kämpfe. Verluste und Gewinne zu vergleichen hatte der gemeine Reformgegner zweitens schon länger nur selten Gelegenheit, weil jene - es sei denn im Reiche der Versprechungen - jahrelang ausblieben. Dass dagegen »halb voll« stets besser klingt als »halb leer« ist zweifellos richtig. Nur: lässt sich daraus tatsächlich ableiten, dass »Transparenz, aber auch die Botschaft der Unabweisbarkeit einer Reform« deren »Akzeptanz in signifikanter Weise verbessert«? Man darf gespannt sein, denn Finanzminister Peer Steinbrück dürfte demnächst die Probe aufs Exempel machen. Er hat dieses zynische Stück Publikums...

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