nd-aktuell.de / 09.03.2019 / Montagmorgen / Seite 15

Ein geordneter Massensuizid sollte in Erwägung gezogen werden

Jürgen Amendt

Nichts ist in diesen Zeiten so wichtig wie Aufmerksamkeit. Als Radfahrer in Berlin muss man zum Beispiel besonders aufmerksam sein, will man nicht wortwörtlich unter die Räder (bevorzugt jene, die an den Achsen von 40-Tonnern aufgehängt sind) geraten. Einmal nicht aufgepasst …

Doch auch im Medienbetrieb ist Aufmerksamkeit überlebenswichtig. In den USA wurde jetzt eine Doku veröffentlicht, die den Vorwurf gegen Michael Jackson erneuert, der 2009 verstorbene Popmusiker sei gegen kleine Jungs sexuell gewalttätig geworden. Der Film bringt keine neuen Beweise, zu Wort kommen zwei heute erwachsene Betroffene, die Familie von Michael Jackson dementiert alle Vorwürfe, Jackson selbst kann sich nicht mehr äußern. Zu seinen Lebzeiten wurde Jackson kein einziges Mal gerichtlich belangt. So moralisch problematisch das ist: Im Sinne des Rechtsstaates und eines funktionierenden Gemeinwohls muss Michael Jackson für uns als unschuldig gelten. Einige Radiosender haben aufgrund der Ausstrahlung der Doku dennoch angekündigt, keine Musik mehr von Michael Jackson in ihren Programmen zu spielen. Das bringt den Sendern vor allem eines: Aufmerksamkeit; zur Aufklärung trägt der Boykott nicht bei. Aber darum geht es der Aufmerksamkeitsökonomie der Medien ja auch nicht.

Die jüngste Sau die durch das mediale Dorf der Aufmerksamkeit getrieben wird, ist das Buch einer Frau, die Frauen dazu aufruft, keine Kinder mehr zu gebären. Nun ist der Gebärstreik seit der Antike ein probates Mittel der Frauen, Männer nicht nur zu ärgern, sondern die Welt zum Besseren zu bewegen. In Griechenland verbündeten sich so die Frauen Athens und Spartas gegen ihre Krieg führenden Männer, um selbige zum Frieden zu zwingen. Die Autorin besagten Buchs begründet ihren Aufruf allerdings mit dem Argument, dass jedes nicht geborene Kind eine CO2-Einsparung von rund 50 Tonnen im Jahr bedeute. Ein Kind zu bekommen, sei das Schlimmste, was man der Umwelt antun könne, meint sie. In der Gesellschaft herrsche ein »pronatalistisches Dogma«; unsere Kultur sei bedauerlicherweise darauf ausgerichtet, Kinder zu bekommen.

Die üblichen Aufmerksamkeitsabhängigen von »Focus«, über »Bild« bis zur »Welt« und anderen Postillen fraßen den Unsinn natürlich aus der Hand und erzählen ihn weiter, um selbst Aufmerksamkeit zu erhalten. Jetzt verbreiten sich die Thesen der Frau im Internet und es ist abzusehen, dass demnächst ernsthaft über das Pro und Contra des Antinatalismus gestritten wird; nicht ausgeschlossen ist, dass auch die Krawallrunden bei Maischberger, Illner, Will und Plasberg sich des Themas annehmen werden.

Konsequenterweise müsste man fordern, Frauen, die Kinder gebären, zu bestrafen; auch ein geordneter Massensuizid sollte mit Blick auf den ökologischen Fußabdruck jedes einzelnen Menschen in Erwägung gezogen werden. Um der Autorin aber nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken, wird ihr Name in diesem Text verschwiegen. Es gibt wichtigere Dinge im Leben, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken sollten und die im Gegensatz zum ökologischen Fußabdruck wirklich überlebenswichtig sind - der Berliner Straßenverkehr zum Beispiel.