nd-aktuell.de / 16.03.2019 / Kommentare / Seite 8

Tränen

Leo Fischer über persönliche Sorgen und einen möglichst ungestörten Betriebsablauf

Leo Fischer

»Schadet Weinen im Job der Karriere?« Das ist eine aktuelle Überschrift der Turbopostille des Liberalismus, der »Welt«, in der ernsthaft diskutiert wird, ob man das universelle Jammertal, das die heutige Arbeitswelt darstellt, noch aushalten muss oder schon darf.

In der Studie eines amerikanischen Personaldienstleisters, die die »Welt« zitiert, gaben 45 Prozent der Befragten an, am Arbeitsplatz schon einmal geweint zu haben; mehr als die Hälfte seien dort »schon einmal aus der Haut gefahren«.

Während im Zustellergewerbe die Leute mit 16-Stunden-Tagen und endloser Scheinselbstständigkeit ganz legal zu Tode gearbeitet werden, während in den großen Fertigungshallen nun schon Windeln verordnet werden, damit sich die menschlichen Roboter zeitsparend in die Hosen scheißen, geben Berater Auskunft, ob man sie feuern darf, wenn sie über dieser Karikatur eines Lebens gelegentlich in Tränen ausbrechen.

Die »Welt« erfährt von einer »Berufsberaterin und Karriereexpertin« aus Hamburg: »Es gibt gewisse Situationen, die legitim sind. Etwa wenn man eine schlimme Nachricht erhalten hat, wie ein Trauerfall in der Familie zum Beispiel.« Hier, so die »Welt«, seien Tränen »menschlich und verständlich. Grundsätzlich gilt: Je besser Arbeitnehmer sich erklären können, desto höher ist die Chance auf Verständnis.« Ein Verständnis, das leider schnell schwindet, vor allem, wenn die Erklärung recht naheliegend am Nebentisch oder in der Chefetage sitzt: »Brechen Arbeitnehmer regelmäßig im Büro in Tränen aus, kann das durchaus zu einem Nachteil führen.« Mobbingtendenzen könnten verstärkt, Gefühlsausbrüche als Labilität und emotionale Erpressung gedeutet werden.

Gleichzeitig sei Weinen befreiend - solange man es erklären kann. Die Beraterin kann es gut folgendermaßen formulieren: »Man kann es gut folgendermaßen formulieren: Tut mir leid, dass ich gerade etwas emotional war, aber nun geht es mir besser, und wir können wie gehabt fortfahren.« Denn darum geht es letztlich: In Zeiten, in denen das gemeinsame Mittagessen und der Korb mit frischen Früchten die Betriebsrente oder auch nur die Festanstellung ersetzen, in denen Versetzungen ans andere Ende der Welt Einstellungsvoraussetzung und Schwangerschaften das Ende der Karriere bedeuten, darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, an alledem sei irgendwas auszusetzen. Die Fortsetzung wie gehabt ist indessen die eigentliche Katastrophe.

Aber es ist ja gar nicht mal so, dass alle nur die Klappe halten und ihre Tränen runterschlucken sollen. Die neueste Perfidie ist es, die Verzweiflung über das eigene Unglück noch in den Arbeitsprozess aufzunehmen. Im Fortgang des »Welt«-Artikels raten die Experten, »Gefühle nicht zu verdrängen, sondern wahrzunehmen, um so für sich selbst eine Klärung zu finden. Das Herauslassen der Emotionen kann nämlich in vielen Fällen als Bewältigungsmechanismus dienen«, gegebenenfalls könne man sich ja auch anderen anvertrauen. Im Klartext: Ein bisschen weinen am Arbeitsplatz wirkt krampflösend und befreiend, kann gar zum Teambuilding beitragen und sorgt auch dafür, dass die Leute weniger geneigt sind, durch einen spektakulären Selbstmord die Arbeitsabläufe zu gefährden.

In der fortschreitenden Tendenz zur Intimisierung der Arbeitswelt ist es dann nicht mehr lange hin zum Cry-Room, in welchem von ihrem Leid emotional überwältigte Mitarbeiter sich eine kurze Heulpause nehmen können. Haben sie sich ausgeweint, können sie die eigene Selbstzerstörung umso entspannter ins Werk setzen. Die Klärung, die die Experten empfehlen, diese Klärung wird freilich kein Mitarbeitergespräch und kein Counseling der Welt herbeiführen.