Botschaften aus dem Dandy-Jenseits

Der Geist von Oscar Wilde schreibt mit: »Die Nebelkrähe« von Alexander Pechmann

  • Jürgen Schneider
  • Lesedauer: 5 Min.

Hester Dowden (1868-1949), auch Hester Travers Smith genannt, war ein spiritualistisches Medium irischer Herkunft. Sie beanspruchte für sich, mit den Geistern von Shakespeare, Oscar Wilde und anderen Schriftstellern in Kontakt zu stehen. Mit ihren Büchern »Voices from the Void« (1919) und »Psychic Messages from Oscar Wilde« (1924) brachte sie es in England zu einiger Berühmtheit.

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Alexander Pechmann: Die Nebelkrähe. Steidl, 176 S., br., 18 €.

Ihr Vater Edward war ein bekannter Literaturwissenschaftler. Durch ihn unterhielt Dowden enge Verbindungen zur irischen Literaturwelt, etwa zu W. B. Yeats und Bram Stoker. Deren Kollege James Joyce las prompt Dowdens Buch »Psychic Messages from Oscar Wilde«, in dem der Geist von Oscar Wilde Joyces »Ulysses« als »großes Schundwerk« bezeichnet, und verwendete dessen Inhalt als Material für sein Spätwerk »Finnegans Wake«, durch das Oscar Fingal O’Flaherty Wills Wilde geistert.

Dowden und Wilde sind zentrale Figuren in »Die Nebelkrähe«, dem neuen Roman von Alexander Pechmann. Im irischen Internat wurde Wilde von seinen Mitschülern einst »grey crow« gerufen, was mit Greisenkrähe zu übersetzen wäre. Glaubt man den Hinweisen der Wilde-Biografen, ist der Spitzname aber weder der Nebel- (Corvus corone cornix) noch der Greisenkrähe (Corvus tristis) geschuldet, sondern einer in Internatsnähe gelegenen Insel im Upper Lough Erne.

London, 1923: Peter Vane hat das Grauen des Ersten Weltkriegs überlebt und leidet unter dem, was heute als posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet wird. Er kann nicht schlafen, und eine unbekannte Kinderstimme raunt ihm immer wieder einen einzigen Namen zu: »Lily«. Doch anders als im Song »Pictures of Lily« von The Who fühlt sich der mit diesem Namen Konfrontierte eben nicht »alright«.

Der junge Kriegsveteran und Mathematikstudent, der sich mit der Riemann’schen Geometrie befasst, bei der es nicht nur um Flächen, sondern um höherdimensionale, gekrümmte Räume geht, kennt niemanden mit diesem Namen. Nur die Daguerreotypie eines kleinen Mädchens, die ihm sein verwundeter Kamerad Finley im Schützengraben nördlich von Paris zugesteckt hat, scheint auf irgendeine Weise mit Lily in Verbindung zu stehen. Finley ist jedoch verschollen, und um ihn zu finden, sucht Vane, »der bedauerlich fantasielose Mann der Zahlen und Fakten«, Hilfe bei der Spiritistin Dowden. Als Vane an einer ihrer Séancen teilnimmt, spürt er eine unheimliche Präsenz: Oscar Wilde, tot seit 23 Jahren, führt ihm beim automatischen Schreiben den Stift.

Der an mathematischer Logik geschulte Vane versucht mit Unterstützung der exzentrischen Dolly, für diesen »Geistermumpitz« eine rationale Erklärung zu finden, das Rätsel um Lilys Foto zu lösen. Doch je weiter er sich vortastet, desto deutlicher wird, dass der Schlüssel hierfür in seiner eigenen Vergangenheit verborgen liegt: Vane spielte als Kind an der Seite eines Elfenkindes, dargestellt von Dolly, einen Faun; und als er auf der Bühne Angst bekam, rief er nach Lily, Dollys Mutter.

Dolly hat wie Hester Dowden eine Entsprechung im wirklichen Leben. Dorothy Ierne Wilde, genannt Dolly, war Oscar Wildes Nichte, ihm in Aussehen und Auftreten sehr ähnlich. Sie liebte schnelle Autos und schöne Frauen und gebärdete sich wilder als ihr Onkel, sodass sie als fiktionalisierte Person noch heute nur Erstaunen hervorrufen kann. In Pechmanns Roman bleibt sie allerdings wie alle anderen Figuren, die der Autor der Realität entlehnt, blasser, als sie es in der wirklichen Londoner Gesellschaft mit ihren »schönen Schwachköpfen und brillanten Irren« (Oscar Wilde) waren. Als einzige Irin im Buch wird Dolly jedoch nicht als »Milchmädchen« und nicht als »provinziell frisch«, »stämmig, ungepflegt« oder »grob« bezeichnet.

Geist-Geflacker scheint en vogue zu sein. In Thomas Pierces Roman »Die Leben danach«, gerade in Übersetzung erschienen, trifft ein Protagonist seinen verstorbenen Vater dank einer Wiedervereinigungsmaschine, durch die es möglich ist, mit Toten in Kontakt zu treten.

Theodor W. Adorno hatte einst in »Minima Moralia« formuliert: »Wenn die objektive Realität den Lebendigen taub erscheint wie nie zuvor, so suchen sie ihr mit Abrakadabra Sinn zu entlocken. (...) Seit den frühen Tagen des Spiritismus hat das Jenseits nichts Erheblicheres kundgetan als Grüße der verstorbenen Großmutter nebst der Prophezeiung, eine Reise stünde bevor. Fakten, die sich von anderem, was der Fall ist, nur dadurch unterscheiden, dass sie es nicht sind, werden als vierte Dimension bemüht. Einzig ihr Nichtsein ist ihre qualitas occulta.« Anthroposophen werfen Adorno Mangel an Erkenntnismut vor, den Übergang vom Zeitalter der Philosophie, das mit Hegel geendet habe, in ein solches der Wissenschaft des realen Geistes, inauguriert von Rudolf Steiner, nachzuvollziehen.

Thomas Pechmann versucht immer mal wieder recht zaghaft, den Hokuspokus der am Spiritisten-Tisch empfangenen Botschaften aus dem Wilde’schen Dandy-Jenseits zu relativieren, etwa wenn er einen Protagonisten sagen lässt: »Was nützt es einem biologischen Organismus, Geister zu sehen, wenn er an der nächsten Straßenecke von einem Omnibus überfahren wird? Außersinnliche Wahrnehmung ist also ein Luxus, den wir uns eigentlich nicht leisten können.«

Und Wilde? Der hatte lange vor den im Pechmann-Roman geschilderten Geschehnissen geschrieben: »Wissen wäre fatal. Die Ungewissheit ist es, die uns reizt. Ein Nebel macht die Dinge wunderschön.«

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