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Wenn ein Kind verschwindet

Was politisches Theater heute leisten kann: »The Nation« am Schauspiel in Frankfurt am Main

  • David Salomon
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein elfjähriger Junge ist verschwunden: Ismael Ahmedovic. Die Suche nach dem Kind ist der Mittelpunkt von Eric de Vroedts Stück »The Nation I«, das nun in deutscher Erstaufführung am Schauspiel Frankfurt am Main zu sehen ist, nachdem es 2017 in den Niederlanden Premiere hatte. Um das verschwundene Kind kreist die Geschichte wie das Spiegelsystem eines Kaleidoskops.

Gespiegelt wird hier die Wirklichkeit einer Stadtgesellschaft, in der Interessen aufeinanderprallen, sich Identitäten voneinander abgrenzen und »Werte« als Kampfeinsätze aufeinanderprallen.

Da ist der Politiker Martin Wolff (Heiko Raulin), homosexueller Sozialdemokrat mit gutbürgerlichem Bildungshintergrund und alter Freund von Ismaels grünliberalen Pflegeeltern Ida und Alexander Aschenbach (Heidi Ecks, Uwe Zerwer). Er versucht das Bauprojekt »Safe City« zu verhindern, ein am Reißbrett geplantes Stadtviertel, das Gentrifizierung mit digitaler Totalüberwachung verbindet. Für seinen alten Studienfreundfeind, den Aufsteiger Jörg van der Poot (Shenja Lacher), verkörpert »Safe City« die politische Utopie einer glücklichen Zukunft und die Krönung des eigenen ökonomischen Erfolgs.

Um seinen Gegenspieler auszustechen scheut van der Poot nicht davor zurück, im Bündnis mit dem Blogger »Der Bär« (André Meyer), eine Kampagne gegen Wolff zu inszenieren, die diesen als pädophilen Triebtäter darstellt. Da ist Ismaels leibliche Mutter Mariam Traoré (Dela Dabulamanzi) und ihr großes Projekt: Die »Halal-Weinbar«, ein Lokal für muslimische Frauen. Ihr salafistischer Stiefsohn macht dagegen mobil.

Der Verdacht, am Verschwinden von Ismael (Saeed Queadruogi, Sophonias Amanueol) schuldig zu sein fällt zuerst auf den Polizisten Wilzen, (Shenja Lacher), weil er das Kind nach einem Steinwurf auf die Weinbar verhaftet hat. Licht ins Dunkel bringen soll der interne Ermittler van Ommeren (Sebastian Kuschmann), der schließlich die Ermittlungen im Fall Ismael leiten wird. Außerdem gibt es eine Journalistin, opportunistische Sozialdemokraten, einen Rechtspopulisten und einen PR-Berater, der gleichzeitig Wolffs Lebensgefährte ist.

All diese Figuren bilden ein Netz aus engen Beziehungen und Gegensätzen. Dass ihr Verhältnis zueinander auch als Familiengeschichte daherkommt, zeigt, wie brüchig »Gemeinschaften« sind. Zurecht erinnert Dramaturg Alexander Leiffheidt im Programmheft an Benedict Andersons Rede von Nationen als »imagined communities«. Auf der Grundlage sich ausschließender kulturalistischer Gemeinschaftsträume sind soziale Konflikte nicht bearbeitbar. In ihrer demobilisierten Form weisen sie über die Konfliktlinien im Stück hinaus, sie sind abwesend wie anwesend.

Die exzellent gespielte Frankfurter Inszenierung unter der Regie von David Bösch zeigt »The Nation« als großen Bilderbogen: schrill und grell, dann wieder leise und intim. Die Assoziation zu populären Serienformaten, die beispielsweise auf Netflix laufen, wird nicht nur dadurch unterstrichen, dass das Stück auf zwei Abende aufgeteilt wird und die Drehbühne rasche Szenenwechsel ermöglicht, sondern auch durch den Einsatz von Videoprojektionen. Zum Teil sind es vorproduzierte Sequenzen (Bert Zander), zum Teil Liveübertragungen von der Bühne (Benjamin Lüdtke).

So wird es möglich, den Figuren nahe zu kommen, zum Teil unerträglich nahe, wie in der Talkshow, in der zeitgenössisches Politainment in seiner grotesken Grausamkeit kenntlich wird. Ein Höhepunkt ist der Showdown zwischen Wolff und van der Poot, der mit seinen unvorhersehbaren Wendungen an Brechts »Im Dickicht der Städte« erinnert. Der private Kampf erscheint schon aus dem Grund als sozial (und in einer entpolitisierten Weise politisch), weil er in anderen Verhältnissen so nicht möglich wäre.

»The Nation« zeigt, was politisches Theater heute leisten kann. Politisch ist diese Aufführung nicht aufgrund einer eindeutigen Botschaft, sondern weil sie Fragen aufwirft und die Mechanismen politischer und medialer Diskurse seziert. So sehr sie sich dabei ins Satirische steigert, bleibt die Tragik des verschwundenen Ismael stets präsent. Im ersten Teil erinnert Mariam Traoré daran, dass Ismael in der islamischen Überlieferung der Sohn des Stammvaters Ibrahim ist, der von Gott zum Opfer Bestimmte, der schließlich in letzter Sekunde gerettet wird. Im zweiten Teil wird dieser Faden erneut aufgenommen, wenn van der Poot von Ismael als Isaak spricht und damit einen wichtigen Hinweis gibt, um den Fall zu lösen.

»The Nation« verdichtet die Zeit, in der wir leben und ist dabei spannend wie ein Thriller.

Nächste Vorstellungen: 8.4., 10.4., 17.4., 18.4., 25.4., 26.4., (»The Nation I«),11.4., 27.4., 5.5. ( »The Nation II«).

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