Markt der Wunder

Velten Schäfer bricht eine Heilige Lanze für den Reliquienkult

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 3 Min.

Gottes Wege sind unergründlich. Deshalb gibt es keine Veranlassung, nach dem kunsthistorisch höchst bedauerlichen Großbrand in der Pariser Kathedrale Notre-Dame eine Theodizee-Debatte - kann es denn Gott geben, wenn er sowas zulässt? - vom Zaun zu brechen. Es unterschätzt des Herren Wege aber auch, wer nun meint, er habe nur dem Götterliebling im Elysee eine Chance geben wollen, in einem nationalen Einigungsruck die Gelbwesten einzunorden, oder es sei ihm darum gegangen, das Spendenpotenzial der Reichen zu prüfen.

Auf den göttlichen Sinn des kurz vor dem Auferstehungsfest platzierten Ereignisses weist eher der Umstand hin, dass diejenige Hälfte der Originaldornenkrone des Gemarterten das Feuer unbeschadet überstand, die nach deren vatikanischer Zerteilung von Napoleon der Kathedrale übergeben worden war. Wie bei der Heiligen Lanze handelt es sich hierbei um eine sekundäre oder Berührungsreliquie, die - obgleich sie Christus selbst berührte - zwar nicht an den Kultgrad mumifizierter Heiligenkörperteile heranreicht, aber doch zur Produktion sogenannter tertiärer oder Berührungs-Berührungsreliquien taugt. Wäre es da, so könnte das Signal sein, nicht ein Leichtes, die milliardenteure Restauration auf dem Markt zu finanzieren? Mithilfe einer Rotationsmaschine? Heilige Shirts für alle? Kochlöffel für den gesegneten Appetit?

Bisher werden derlei Objektheiligungen durch Reliquienkontakt meist im südlichen Europa und in eher kleinerem Rahmen praktiziert. Doch stehen einschlägige Kirchenbestimmungen einer Ausweitung zumindest nicht lückenlos entgegen: Zwar verbot schon 386 der Codex Theodosianus den Handel, allerdings nur mit Körperteilreliquien. Und das Kanonische Recht lässt gewisse Spielräume, indem es zwar den Verkauf verbietet, nicht aber den Erwerb und das Verschenken gegen Spende. Es fände sich eine gangbare Lösung.

Eine solche Professionalisierung des Marktes der Wunder würde die Profitrate heutiger Markenkonzerne spielend übertreffen. Doch vor allem brächte sie ideellen Gewinn. Der als altväterlich verschriene Katholizismus könnte sich auf der Höhe einer Zeit zeigen, in der das Oberhaupt der Grande Kulturnation redet wie ein Start-up-Guru. Und endlich ließe sich des Soziologen Max Webers Urteil dementieren, allein der Protestantismus sei die prägende Religion der Moderne, also des Kapitals: Was wären die marktkonformen Sekundärtugenden der »protestantischen Ethik« gegen den praktischen Nachweis, dass stoffliche Relikte eben nicht nach Luther »nur tot’ Ding« sind, sondern quasi im Handumdrehen mit Marx lebendig werden können, »voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken« - also Ware?

So geriete der Wiederaufbau von Notre Dame zugleich zu einem kulturgeschichtlichen Relaunch des Katholizismus. In diesem - und nur diesem - Sinn könnte sogar das Bonmot des notorischen Antichristen Buenaventura Durruti in Gottes Plan liegen, nach dem nur eine brennende Kirche für wirkliche Erleuchtung sorgen kann.

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