Deutscher Rekord im »Kapitalistensport«

Jahrelang hat Sachsen Niedriglöhne propagiert - jetzt ist der Freistaat bundesweit Schlusslicht bei der Tarifbindung.

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

So klingt Sarkasmus: »Wir können gar nicht so schlecht arbeiten, wie wir bezahlt werden«, schrieben Mitarbeiter der Teigwaren Riesa GmbH bei einem Arbeitskampf auf ein Plakat. Das Unternehmen mit Eigentümern in Baden-Württemberg gehört zu den bekanntesten der Branche im Osten. Von dem guten Ruf hatte die Belegschaft indes lange wenig. Zwei Drittel der 140 festen Beschäftigten verdiente kaum mehr als Mindestlohn.

Das ist keine Ausnahme in Sachsen. Das Bundesland ist quasi deutscher Meister in dem, was DGB-Chef Reiner Hoffmann bei einer Kundgebung am 1. Mai in Leipzig als »Volkssport der Kapitalisten« bezeichnete: Tarifflucht. Nur 39 Prozent der Beschäftigten im Freistaat werden nach Tarif bezahlt, nur 15 Prozent der Betriebe sind tarifgebunden. Das geht aus einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung im Auftrag des DGB Sachsen hervor.

Um die Tarifbindung ist es in der Bundesrepublik generell nicht mehr gut bestellt. Wurden in den 1990ern noch vier von fünf Beschäftigten nach Tarif bezahlt, ist es jetzt nur noch gut jeder Zweite. In anderen europäischen Ländern ist die Tarifbindung weit höher; in Frankreich und Österreich liegt sie bei fast 100 Prozent. Garant dafür sind Institutionen oder Mechanismen wie der, dass Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden.

In Sachsen freilich geschah über Jahre hinweg das genaue Gegenteil. Dort galten Löhne weit unterhalb des Tarifs als Standortvorteil, den die Politik offensiv bewarb - in der Hoffnung, Investoren anlocken zu können. Es sei, sagt DGB-Landeschef Markus Schlimbach, »staatlich gewollt« gewesen, dass kein Tarif gezahlt wurde. Negative Folgen wie Abwanderung und niedrige Steuereinnahmen nahm man billigend in Kauf. Um den Tarif zu umgehen, mussten Firmen nicht aus dem Arbeitgeberverband austreten: Die »Vereinigung der sächsischen Wirtschaft« (VSW) bietet dafür sogenannte OT-Mitgliedschaften an.

Die Strategie führte zu fragwürdigen »Erfolgen«. Erhielten Mitte der 90er Jahre noch drei von vier Beschäftigten Tariflohn, stürzte die Quote danach binnen kurzem dramatisch ab. Heute liegt Sachsen bei der Tarifbindung bundesweit ganz hinten, vier Prozentpunkte hinter dem Vorletzten Thüringen, zehn hinter »Ost-Spitzenreiter« Sachsen-Anhalt, gar 23 hinter Nordrhein-Westfalen. Selbst in Osteuropa ist die Tarifbindung teils höher. Im Nachbarland Tschechien liegt sie bei 46 Prozent.

Grund für die sächsische Misere ist kein ungünstiger Branchenmix. Zwar gibt es Bereiche wie Land- und Forstwirtschaft, wo der Anteil der Tarifbeschäftigten mit vier Prozent gerade noch messbar ist, oder das Gastgewerbe, das wegen oft mieser Löhne unter enormem Arbeitskräftemangel leidet. Prägend sind aber andere Wirtschaftszweige. Der Freistaat gilt als Land der Ingenieure; Maschinen- und Automobilbau haben viele Mitarbeiter; die Metall- und Elektroindustrie beschäftigt in 1700 Unternehmen 185.000 Sachsen. Das sind zehn Prozent aller Beschäftigten, ein deutlich höherer Anteil als im Osten insgesamt. Entgegen ihrem Ruf garantiert aber auch diese Branche im Freistaat nicht nur gute Löhne; jenseits großer Leuchttürme wie VW in Zwickau und Chemnitz wird es oft schnell finster: Nur jeder dritte sächsische Metaller bekommt Tarif. Im Westen ist die Quote immerhin doppelt so hoch.

Und selbst in Unternehmen mit kommunalen Eigentümern ist Tarifflucht keine Ausnahme. Die Studie erwähnt das Leipziger Klinikum St. Georg mit 2500 Mitarbeitern, das 2006 in eine gGmbH überführt wurde und 2010 aus dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes ausstieg. Der Lohnabstand beträgt der Studie zufolge inzwischen 13 Prozent.

Einen fahlen Lichtstreif sieht der DGB immerhin am Horizont; 2014 sei die Niedriglohnstrategie »offiziell beendet« worden, sagt Schlimbach. Damals trat die SPD in Sachsen in die Regierung mit der CDU ein. Ihr Wirtschaftsminister Martin Dulig drängte erst diese Woche auf eine starke Tarifbindung. Die Linkspartei merkte indes an, dass es die Sozialdemokraten nicht vermocht hätten, ein neues Vergabegesetz durchzusetzen. Das wiederum wäre, wenn es eine Tariftreueregelung enthält, auch nach DGB-Ansicht sehr wichtig, um über öffentliche Aufträge die Tarifbindung zu erhöhen. Bei den Fördermitteln für die Wirtschaft gibt es solche Klauseln immerhin bereits. Der DGB drängt auch darauf, häufiger Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Und er betont die Rolle von Betriebsräten und Arbeitskämpfen. Teigwaren Riesa ist dafür ein gutes Beispiel. Nach hartem Kampf steht dort jetzt die Übernahme des Manteltarifs in Aussicht.

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