Mächtig ausgebeutet

Roberto J. De Lapuente über Arbeitskräfte, die vom Jobwunderland nicht profitieren.

  • Roberto J. De Lapuente
  • Lesedauer: 4 Min.

Beim »Spiegel« macht man sich Sorgen um die Konjunktur. Die fetten Jahre seien vorbei. Aber Entwarnung, liebe Arbeitnehmer: Für euch geht das Jobwunder weiter. Besser noch: »… die Arbeitnehmer werden mächtiger denn je.« Wenn das mal nicht gute Aussichten sind. Mehr Zukunft wagen, möchte man da freudig ausrufen. Wenn sich dann der Freudenausbruch etwas legt, man wieder mit kühlem Kopf bei der Sache ist, stellt sich ja dann doch eine Frage: Für wen waren die Jahre fett? Und muss Arbeitskräftemangel zwangsläufig mit Machtzuwachs für Arbeitende einhergehen?

Es ist ja schon befremdlich, dass das Wochenmagazin vom Jobwunder schwafelt. Die Kennzahlen lassen nur den Schluss zu, dass der Wahlspruch »Hauptsache Arbeit«, den man im Zuge der Umsetzung der Agenda 2010 häufig hörte, zur bitteren Realität wurde. Anders gesagt: Quantität schlug Qualität. Der Niedriglohnsektor ist nach wie vor beispiellos in Europa. 7,2 Millionen Menschen haben einen Minijob – 4,8 Millionen Menschen sind reine Minijobber ohne eine andere, eine absichernde Beschäftigung zu haben. Langzeitarbeitslose sind in der Regel immer noch genau das: Langzeitarbeitslos.

Eine Branche boomt allerdings augenscheinlich. Seitdem wir uns zu einer Bestell- und Anliefergesellschaft entwickelt haben, ist der Beruf des Lieferanten überlebenswichtig für uns Couchkonsumenten geworden. Ohne den Boten geht gar nichts mehr. Er ist unser Held – unser Lieferheld. Früher gab es eigentlich nur die Katalogbestellung. Mittlerweile reicht ein Blick auf die Handy-App, um sich was ins Haus bringen zu lassen. Und auch die Palette der lieferbaren Waren hat zulegt: Möbel, Klamotten, Blumen, Medikamente oder Pizza: Des Lieferanten Aufgabenfeld wuchs beständig.

Was leider nicht wuchs: Das Ansehen der Lieferbranche, der Leute, die bei uns an der Haustür klingelt, uns Sperrgut in den fünften Altbaustock wuchtet, während man mit dem Gefährt unten immer kurz davorsteht, gleich einen Strafzettel zu kassieren. Die Arbeitsverhältnisse in denen sie stecken, sind zumeist katastrophal. Sie leisten Überstunden und ihr Stundenlohn ordnet sie im Niedriglohnsektor ein.

Ihre Arbeitgeber sind strukturelle Ausbeuter: Sie zahlen schlecht und versuchen die Lohnkosten noch durch ein rigides System der Disziplinierung zu drücken. Als Wallraff vor Jahren verdeckt bei GLS Pakete ausfuhr, berichtete er davon, dass ein gewaschener Lieferwagen vorgeschrieben war – verantwortlich dafür waren die Lieferanten, die ohnehin völlig ausgebucht waren und deren Tour sich oftmals weit über zehn Stunden am Tag erstreckte. War das Gefährt dreckig, behielt es sich das Unternehmen vor, eine Strafsumme vom Lohn abzuzwacken.

Einige Lieferanten nächtigen sogar in dem ihnen zugeteilten Lieferwagen. Andere fahren mit dem Privatauto Pakete aus. Mehrfach konnte ich schon Paketboten beobachten, in deren Auto Kinder saßen – nach Schulschluss müssen die Kleinen schließlich betreut werden.

Gesucht wird fast überall. Man muss nur belastbar, flexibel und kundenorientiert sein. In Läden und gastronomischen Betrieben sucht eigentlich immer jemand einen Zusteller. Apotheken suchen ebenfalls. Supermärkte liefern heute schon nach Hause – man darf davon ausgehen, dass dieser Bereich bald noch großräumiger erschlossen wird. Und die Deutsche Post sucht ohnehin ohne Unterlass neue Kollegen.

Und dennoch, obwohl die Branche boomt, ein regelrechtes Jobwunder im Gange ist: Arbeitnehmer profitieren von diesem Goldrausch überhaupt nicht. Das ist der dramatische Unterschied zwischen dem Wirtschaftswunder einst und dem, was man uns heute als neues Wunder verkaufen möchte: Damals verbesserte sich die Lage der Arbeitnehmer durchaus. Die Belegschaften profitierten von der guten wirtschaftlichen Situation. Die heutige Variante des vermeintlich Wundersamen separiert allerdings die Auftragslage und die Angestellten. Oft wird die Auftragssituation durch Dumping forciert, wobei der Aufschwung ganz sicher nicht bei denen, die die Arbeit verrichten, ankommen kann.

Nette Aussichten, die da im Spiegel zu lesen waren. Aber die Arbeitskraftknappheit erzeugt in unserer Sparflammenökonomie nicht zwangsläufig eine Umkehrung der Machtverhältnisse zugunsten derer, die ihre Arbeitskraft als Ressource feilbieten. In der Lieferbranche kann man das seit Jahren beobachten. Das Wachstum hat eine Lieferantenknappheit erzeugt, aber besser geht es den Lieferanten deshalb noch lange nicht. Knappheit ist kein Selbstläufer. Pflegeberufene könnten übrigens auch ein Lied davon singen – nachdem sie sich abends völlig ausgebrannt eine Pizza ans Sofa haben bringen lassen.

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