Die Wirkung des EU-Wahlkampfs

Über pro-europäische Slogans und fehlende Debatten über die politische Richtung.

  • Andreas Fisahn
  • Lesedauer: 6 Min.

Wer in den vergangenen Tagen mit offenen Ohren und Augen durch die politische Landschaft gegangen ist, den konnte ein beklemmendes Gefühl beschleichen. Die Wahlwerbung der meisten Parteien beschränkt sich auf ein Bejubeln Europas − ganz vorn die SPD mit »Europa ist die Antwort«. Andere schreiben Europa eher einen instrumentellen Charakter zu wie die CDU »Für Deutschlands Zukunft. Unser Europa.« Das besitzanzeigende Fürwort - wie mögen sich wohl Norweger und Schweizer fühlen, wenn sie das lesen − vereinnahmt nicht nur, sondern suggeriert gleichzeitig ein »Wir«, das es nicht gibt und nicht geben kann. Sven Giegold, der Spitzenkandidat der Grünen, wirbt für seine Partei mit »pro-europäisch« − man stelle sich einen solchen Slogan bei Bundestagswahlen vor: »pro-deutsch« würde man doch eher bei der AfD als bei den Grünen vermuten. Ist ein EU-lismus besser als ein Nationalismus? Bedient man nicht die gleichen Muster? Unterschiebt man nicht »Wir Europäer sind besser als der Rest der Welt«?

Nun sind Wahlslogans nie besonders inhaltsreich und differenziert, aber in diesem Wahlkampf wird eine Grenze aufgebaut zwischen uneingeschränkter Zustimmung und vollständiger Ablehnung, als ginge es um ein Exit oder Remain. Gerade mit dieser Grenzziehung stärkt man die extreme Rechte auch in der Bundesrepublik, weil alle diejenigen, die − berechtigte oder unberechtigte − Kritik an der EU oder an der Politik der EU haben, sich − ginge es rational zu − dem Exitlager, also der AfD zuordnen müssten: Tertium non datur, Zwischentöne gibt es nicht - vielleicht mit Ausnahme der Linkspartei.

Gerade dieser Wahlkampf zeigt aber das Problem der EU: Es gibt keine europäische Öffentlichkeit, keine europäischen Parteien und kein europäisches Wahlrecht, sodass eine Auseinandersetzung um die Politik der EU, eine Auseinandersetzung um die politische Richtung, nicht geführt wird. Eine Opposition und ein »Regierungslager« zu bestimmten politischen Positionen, Strategien oder Richtungen gibt es nicht, die Wahlschlacht verläuft frei nach Kaiser Wilhelms berühmten Spruch: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Europäer − oder eben Antieuropäer.

Die fehlende politische Öffentlichkeit steht für ein strukturelles Problem der EU, ein Demokratiedefizit, das vom Bundesverfassungsgericht als »Überföderalisierung« bezeichnet wurde. Die Vertretungen der nationalen Regierungen im Rat sind für die Politik der EU immer noch wichtiger als das EU-Parlament (EP). Für alle Entscheidungen braucht es Mehrheiten im Rat, während das Parlament in manchen Politikfeldern nur angehört wird.

Aber mit dem Lissabonner Vertrag wurde das Parlament aufgewertet. In der Gesetzgebung der EU hat es ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. Von den 166 Rechtsakten, welche die EU im Jahr 2017 beschlossen hat, bedurften 126 einer Zustimmung im Parlament, während nur vierzig Rechtsakte − was immer noch zu viel ist − mit Anhörung des EP beschlossen wurden. Es kommt also durchaus darauf an, wen man in das Parlament wählt. Und es stehen in den nächsten Jahren wichtige Entscheidungen der EU an, bei denen das Parlament mitentscheidet.

Die Rechte des Parlaments

Die EU bestimmt die Umweltpolitik in den Mitgliedstaaten. Gegen den Klimawandel wurde 2004 das Emissionshandelssystem geschaffen, das ab 2007 funktionieren sollte. Bis 2017 waren die Preise für die Berechtigungen, Klimagase in die Luft zu pusten, viel zu gering, das heißt, das System funktioniert nicht. Die Marktideologie herrscht auch hier: Der Ausstoß von Klimagasen sollte über den Markt geregelt werden. Schweden hat dagegen schon sehr früh eine CO2-Steuer eingeführt, die deutlich schneller an politische Zielbestimmungen angepasst und bei Fehlleistungen korrigiert werden kann. Darum geht es auch bei den EP-Wahlen: Welches System der Klimapolitik soll künftig betrieben werden? Blickt man auf die AfD, stellt sich eher die Frage, ob überhaupt Klimapolitik betrieben werden soll. Die Partei reiht sich ein in diejenigen Kleingeister, die das Problem gegen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse leugnen. Bei Schiller heißt es: »Gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.« Hoffentlich hatte er nicht recht.

Weiter geht es auch um die Migrationspolitik der EU. Setzt man eher auf Abschottung und Schließung der Grenzen für Menschen und die Öffnung der Grenzen für Waren und Kapital oder tritt man ein für fairen Welthandel und eine humanitäre Flüchtlingspolitik bei gerechter Verteilung zwischen den Mitgliedstaaten? Und es geht um die Arbeitsbedingungen in der EU und umfassender: um die soziale Säule der EU, die bisher nur ein Blatt Papier ist. Wurde zunächst eine Dumpingkonkurrenz bei den Löhnen zwischen den Staaten akzeptiert, sieht man nun, dass als Prinzip »gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort« gelten muss. Aber der Teufel steckt im Detail: Es kommt auf die Ausnahmen und Schlupflöcher an, welche in die einschlägige Entsenderichtlinie formuliert werden. Es kommt also drauf an, wer im EP entscheidet.

Versprochen wird von einigen Parteien eine EU-Arbeitslosenversicherung in Relation zur Lohnhöhe im jeweiligen Land. Für die sozialen Sicherungssysteme gibt es zwar keine Kompetenz der EU, aber die Staaten können neben der EU entsprechende Vereinbarungen beschließen, wie sie es beim Bologna-Prozess für Hochschulen oder beim Fiskalpakt für die Kreditobergrenzen getan haben. Dafür braucht es öffentlichen Druck und Diskussionen, wobei das EP keine unwesentliche Rolle spielt. Kein Mitentscheidungsrecht hat das EP bei Beschlüssen der EU zur Außen- und Sicherheitspolitik. Die Kommission hat jedoch jüngst − wohl gegen die Verträge − einen Verteidigungsfonds geschaffen, über den Rüstungsforschung und Subventionen an Rüstungsfirmen bezahlt werden sollen. Das Parlament hat diesem Haushaltstitel zugestimmt, aber in Zukunft kann das EP eben auch anders entscheiden. Keine Aufrüstung ohne Zustimmung der Parlamente.

Spekulation statt Streit

Alle diese wichtigen Fragen der künftigen EU-Politik, die jenseits der von den Verträgen geschaffenen Struktur liegen und durch das Parlament verändert werden können, werden in diesem Wahlkampf zwar nicht völlig ausgespart, aber sie dringen nicht durch, bestimmen nicht die Diskussionen in der Gesellschaft. Stattdessen wird spekuliert, ob Weber wirklich neuer Kommissionspräsident wird und ob Bundesbankpräsident Weidmann EZB-Präsident wird. Gerade das wird nicht funktionieren: Die deutsche Dominanz in der EU weiter verstärken, die EU als Vehikel für deutsche Wirtschaftspolitik zu ge- oder missbrauchen und zu meinen, dass der Jubel um die »beste Idee, die Europa je hatte« ausreicht, um der EU die notwendige Legitimation für ihre Politik in der Bevölkerung zu verschaffen. Und darum geht es auch in der EU: Politische Entscheidungen brauchen eine demokratische Rückbindung und so entstehende faktische Zustimmung. Die erreicht man nicht durch kontrafaktische Propaganda.

Andreas Fisahn ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtstheorie an der Universität Bielefeld.

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