Traumberuf Sennerin

Viele Almen in den Chiemgauer Alpen werden von Frauen bewirtschaftet. Auf geführten Wanderungen kann man sie kennenlernen

  • Oliver Gerhard
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Alm ist nicht mehr weit! »Ich rieche schon das Bier und den Käse!«, ruft ein Wanderer und lacht. Der Aufstieg durch den Fichtenwald hat sich in die Länge gezogen, doch jetzt geht es durch bunte Wiesen: Zwischen saftigem Gras leuchten die orangen Blüten des Gold-Pippaus und die lila Büschel der Alpenglockenblumen. Die Luft duftet nach den Alpenrosen, die hier üppig wuchern, nach Bergen und Kühen.

Auf einer Lichtung, über die sich mächtige Kiefern beugen, wuchert gelb blühendes Kreuzkraut. »Das ist Gift für die weidenden Jungtiere«, sagt Josefine Lechner. »Eine klassische Aufgabe für die Sennerin.« Die 53-jährige Chiemgauerin hat selbst Almerfahrung. Nach vielen Jahren in der Erwachsenenbildung hat sie sich als Wanderführerin selbstständig gemacht - und bringt Gäste zu den Sennerinnen der Region.

Gut 700 Almen gibt es in Oberbayern, über Jahrhunderte wurden sie vor allem von Frauen bewirtschaftet: teils von ledigen älteren Familienmitgliedern, teils vom Nachwuchs. Andere wählten dieses Leben aus Liebeskummer, wie Maria Wiesbeck, die »Sennerin vom Geigelstein«, die 1941 mit 17 Jahren auf die Alm zog, um sie nie wieder zu verlassen. Kurz vor ihrem Tod wurde die 93-Jährige zum Facebook-Star mit einem Video, in dem sie ihr entbehrungsreichen Leben schildert.

Plötzlich öffnet sich das Panorama. Wo eben noch der breite Rücken des Hochgern den Blick verstellte, reiht sich jetzt Gipfel an Gipfel: die Loferer Steinberge, die Hörndl-wand, das pyramidenförmige Sonntagshorn - und in der Ferne die Berchtesgadener Alpen. Vor den Wanderern liegt die Hütte der Bischofsfellnalm, ein geducktes Steinhaus aus dem 12. Jahrhundert. Gleich zwei Sennerinnen bewirten hier heute die Gäste: Anna Bichler, 25, und ihre Schwester Lisa, 31.

»Der Beruf als Sennerin ist mein Leben, ich möchte nichts anderes machen«, erzählt Anna, während die Gruppe sich bei der Brotzeit mit hausgemachtem Käse stärkt. Sie ist ausgebildete Hauswirtschaftsmeisterin, lernte das Käsen bei ihrer Mutter, dann zog sie auf die Alm. »Die Freiheit hier oben, die Natur, die netten Leute, die Tiere - das gehört für mich alles zusammen«, schwärmt sie.

Viel Komfort hat sie nicht: eine kleine Stube mit Bollerofen, Holztisch und Spülstein aus Ruhpoldinger Marmor, nebenan eine rustikale Schlafkammer, darunter der alte Keller, der als Kühlschrank dient. Topmodern ist hier nur die Käserei - streng nach EU-Vorschrift. »Fernseher brauche ich nicht, dafür habe ich Radio. Und hin und wieder sogar Handy-Empfang. Nur meine Dusche vermisse ich, und die Feste am Sonntag - ich bin nämlich auch Trachtlerin.«

Eine junge Frau, allein auf der Alm - das weckte schon immer Fantasien: »Sennerin ist frisch und roth, weiß von Kummer nichts und Noth, hat ein Herz von Liebe heiß, wie ich mir kein Zweites weiß«, dichtete Johann Nepomuk Vogl 1841, gefolgt vom Klischee gewordenen »Auf da Oalm, da gibt's koa Sünd!« Und Schriftsteller Ludwig Steub schwärmte von den elfenhaften Almerinnen, die »in der Frühe mit leichten Sohlen über die tauigen Alpenkräuter« streifen.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren die unabhängigen Frauen auf der Alm so verrufen, dass der Erzbischof von Salzburg ein »Sennerinnenverbot« verfügte. Später wurde dieses zwar wieder gelockert, doch die Anwärterinnen auf den Almeinsatz mussten sich zunächst einer moralischen Prüfung durch den Pfarrer unterziehen - und nach ihrer Rückkehr erneut in den Beichtstuhl.

Dabei lässt die harte Arbeit auf der Alm nur wenig Zeit für Sünden - früher wie heute: »Um halb fünf geh ich in den Stall zum Melken und zum Käsen«, zählt Anna auf, »um neun oder zehn kommen die ersten Gäste, um 17 Uhr wieder in den Stall bis um 20 Uhr - danach sitzen die Leute aber immer noch - und um 22 Uhr bin ich im Bett.« Jedes Wochenende kommt ihre Schwester Lisa zum Helfen, für diese ein Ausgleich zu ihrem Bankjob im Tal.

Anna und Lisa sind nicht alleine mit ihrer Berufung: Der Almeinsatz liege bei Frauen wieder mehr im Trend als früher, meint Anna: »Viele in meinem Alter wollen mit der Natur in Verbindung kommen und junge Mädels möchten oft vor der Familiengründung noch um eine besondere Erfahrung reicher werden.« Auch auf ihrer Nachbaralm sind junge Frauen im Einsatz - als Auszeit vom Studium.

Jede Sennerin habe ganz andere Motive und Hintergründe, sagt Wanderführerin Josefine Lechner, die bei ihren Recherchen auf viele Almen gestiegen ist: von der gestandenen Bäuerin, die auf der Alm einen Teil des Familieneinkommens sichert, bis zur Aussteigerin, die ihren Verwaltungsjob gegen das Käsen eingetauscht hat und die Stadtwohnung gegen eine primitive Hütte ohne fließendes Wasser.

Fünf Mal jeden Sommer bietet Lechner diese Touren an: »Die Frauen müssen sich dafür Zeit freischaufeln. Aber dann kann jeder alles fragen, was er auf dem Herzen hat - und die Sennerinnen freuen sich über das Interesse.« Der Chiemgauerin ist das Thema auch ein persönliches Anliegen: »Ich erhoffe mir einen Bewusstseinswandel - die Leute sollen diese Arbeit wieder wertschätzen und nicht mehr die billige Milch vom Discounter kaufen.«

Die Sonne steht tief, die Kühe müssen versorgt werden - doch jetzt ist Besuch da, die Oma der Sennerinnen hat eine Tüte mit Brokkoli und Kohlrabi mitgebracht. Und Schokolade. Anna strahlt: »Ich freu mich über alles, was hier oben selten ist.« Bis Oktober geht ihre Saison in 1.400 Metern Höhe. Den Winter überbrückt sie als Betriebshelferin im Tal. Und wenn der Schnee schmilzt, dann hört sie auch wieder ihren Ruf in die Berge - ihre Berufung.

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