Lasst den Osten nicht alleine, liebe Wessis!

Wer nach der Europawahl »Sachsen raus aus Deutschland« fordert, hat nichts kapiert

  • Gwendolin Rickert
  • Lesedauer: 4 Min.

Dieser Text erschien zuerst in unserem Online-Magazin Supernova

Sonntagabend, irgendwo in Leipzig. Vor dem Fernseher und bei Twitter verfolgen wir die Hochrechnungen der Europawahl. Wir hatten damit gerechnet, dass das Ergebnis unschön wird. Dass die AfD in Sachsen mehr Stimmen als im Bundesdurchschnitt ergattern wird. Dennoch: Am Mittag hatten wir eigentlich ein positives Gefühl. Die gestiegene Wahlbeteiligung war am frühen Mittag greifbar, an den Wahllokalen waren viele junge Leute zu sehen. Die Hoffnung auf einen minimalen Stimmungswandel lag in der Luft. Als die ersten Ergebnisse für die einzelnen Landkreise und Kleinstädte in Sachsen eintrudelten, kam die Ernüchterung. An vielen Orten stimmten noch mehr Menschen als erwartet für rechte Parteien. Dass Wessis nun mit viel Wut in den Fingern Pöbeleien gegen den »bösen Nazi-Osten« posten, bringt uns aber auch nicht weiter.

Klar, ist die Situation dramatisch. Selbst in der Stadt Leipzig kam die AfD auf 15,5 Prozent und im Landkreis Leipzig sogar auf 25,2 Prozent. Wenn selbst die linke Blase Leipzig (hier werden alle Bremer*innen in Leipzig auflachen) so ein Ergebnis erzielt, dann mal ciao für den Rest des Bundeslandes. Ein Beispiel? In Neißeaue im Landkreis Görlitz holt die AfD 46,6 Prozent. SECHSUNDVIERZIGKOMMASECHSPROZENT!

Nazischläger in den Stadtrat

Abgesehen von der Stadt Leipzig holte die AfD in jedem Wahlkreis mehr als 20 Prozent. Doch nicht nur die Nazis in Nadelstreifen räumten bei der Europawahl ab. Die Nazipartei NPD holt in Reinhardtsdorf-Schöna 19,6 Prozent und in Wurzen zieht ein rechter Hooligan, der im letzten Jahr mit einer Machete auf Journalisten losging, in den Stadtrat ein.

Wir sind wütend, vor allem aber traurig. Was uns aber auch nervt, sind Wessis, die meinen sie könnten durch ihr Rumgepimmel im Internet irgendetwas besser machen. Der Twitter-User Hägar der Christian schreibt: »Ihr könnt im Osten eure braune Suppe kochen und auslöffeln, und der Rest von Deutschland muss sich nicht schämen das #Sachsen zu uns gehört. (…) Ich würde die Grenze sogar wieder mit aufbauen.« Der/die User*in sapere aude twittert: »nach der #Europawahl2019 und den Ergebnissen in #Sachsen gibt es viele interessante Ansätze: – Antifaschistischer Schutzwall drumherum – Schulprojekte nach Vorbild der UNICEF-Hilfen für Afrika – #Saxit.«

Wisst ihr was? Behaltet euren digitalen Durchfall á la »Sachsen raus aus Deutschland« bitte für euch. Ganz im ernst. Das ist übrigens KEINE politische Analyseleistung, das ist einfach nur hingekotzte Kurzsichtigkeit.

Wenn ihr nicht darauf aus seid, euch mit edgy Sprüchen auf Twitter zu profilieren, dann kriegt vielleicht mal selbst den Arsch von der Couch (oder schreibt sinnvolle Beiträge wie Ralph Ruthe). Und vor allem: Lasst den Osten nicht alleine! Was wir jetzt wirklich brauchen, sind Verbündete – auch im Westen. Wir müssen wegkommen von der vorherrschenden Perspektivlosigkeit, wenn es um den Osten geht. Deswegen lest den Brief von David Begrich an unsere »westdeutschen Freund*innen« und fangt an, euch mit den Aktiven hier zu solidarisieren und zu vernetzen, statt immer nur mit einer »Hab ich’s doch gewusst! Im Osten wohnen eh NUR scheiß Nazis!«- Rhetorik zu nerven. Hört den Leute zu. Erkundigt euch, was ihr machen könnt.

Gemeinsam den Osten retten

Denn wisst ihr, was hier passiert, wenn die Aktiven hier irgendwann auch die Schnauze voll haben? Auch in den Westen ziehen, weil es bequemer ist? Aufhören sich zu engagieren, weil sie Angst haben? Genau, dann ist der Osten wirklich verloren. Wenn ihr schon nicht selbst aktiv werden wollt, dann lasst wenigstens Geld da, damit wir unsere Idee von einem solidarischen Sommer im ländlichen Ostdeutschland verwirklichen können. Damit wir uns weiter vernetzen können und den Leuten vor Ort zeigen: ihr seid nicht allein. Wir stehen das zusammen durch. Als Wessi solidarisch mit den Ossis sein und Ostdeutschland gemeinsam retten – wann wenn nicht jetzt?

Die Autorin Gwendolin Rickert ist Teil des Projekts #wannwennnichtjetzt, das in diesem Sommer eine antifaschistische Marktplatztour in verschiedenen ostdeutschen Städten organisiert

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