»Kinder waren wie ein weißes Blatt«

Immer draußen und kreativ sein: Wie war die Kindheit in Vietnam? Ein Gespräch mit Thuy Tran

Können in Vietnam kleine Kinder machen, was sie wollen?

Die meisten. Als ich noch in Hanoi wohnte, Anfang der 90er Jahre, waren viele Kinder allein zu Hause, weil ihre Eltern arbeiteten. Sie konnten auf der Straße spielen. Allerdings gab es noch nicht viele Autos, die Straße war leer. Es gab höchstens ein paar Fahrräder. Es war ein ruhiges Viertel, in dem hauptsächlich Soldaten wohnten. Die Leute waren sehr nett, man hatte vollstes Vertrauen zu seinen Nachbarn. Das Leben war sehr einfach und sehr entspannt. Ich hatte eine sehr schöne Kindheit.

Thuy Tran

Thuy Tran ist Grafikdesignerin und lebt in Berlin. Sie wuchs in Hanoi auf, bevor sie als Jugendliche in den 90er Jahren nach Deutschland kam. Über ihre Kindheit sprach sie mit Christof Meueler.

Foto: privat

Wo waren Ihre Eltern?

Mein Vater war schon in Deutschland und meine Mutter hatte einen Gemüseladen, in dem sie sehr viel arbeitete, zusammen mit meiner Tante und meiner Oma.

Hatten Sie Geschwister, die auf Sie aufpassen sollten?

Nein, ich bin ein Einzelkind.

Gab es keinen Kindergarten?

Doch, aber da war ich nur kurz. Vielleicht ein Jahr. Dann passte die Nachbarin auf mich auf. Sie kümmerte sich vielleicht um fünf oder sechs Kinder. Sollte sie zumindest, aber es gab große Freiheiten. Meine Mutter sagte immer, wir sollten in der Wohnung bleiben. Aber weil sie nicht da war, hat sie nicht mitbekommen, dass wir woanders waren. Zum Beispiel sind wir zu einem See gegangen, obwohl wir nicht schwimmen konnten. Als ich dann zur Schule ging, war ich bei meinem Onkel und spielte zusammen mit meinem Cousin. Wir konnten machen, was wir wollten.

Was denn?

Wir waren immer draußen, es gab kaum Spielzeug. Ich hatte vielleicht ein, zwei Kuscheltiere. Alle anderen Spielzeuge mussten wir uns selbst erfinden. Wir Kinder waren wie ein weißen Blatt, das wir selbst vollschrieben. Wir waren sehr kreativ. Ich habe mir das Fahrradfahren selbst beigebracht. Wir nahmen den Rest vom Gemüse und spielten Kochen. Oder wir spielten im Sand, auf der Wiese oder am See. Wir benutzten Steine, um etwas zu kreieren. Wenn wir eine Puppe bekamen, besorgten wir uns die Kleidung selbst. Und wir bauten Puppenhäuser aus Büchern. Wir nahmen also nur die Gegenstände aus der Wohnung zum Spielen. Waren wir draußen, machten wir Seilspringen und spielten Verstecken - und zwar alle Kinder aus dem Viertel zusammen.

Gab es Süßigkeiten?

Kaum. Wir hatten kein Eis, sondern gefrorenen Fruchtsaft.

Und Cola?

Nee. Wir haben meistens Wasser getrunken. Oder selbst gepressten Orangen- und Zitronensaft.

Fernsehen wurde nicht geschaut?

Sehr wenig. Alle waren draußen und spielten gemeinsam.

Und als Sie dann zur Schule gingen?

Dann erst, nachdem die Hausaufgaben gemacht waren. Vielleicht am späten Nachmittag oder abends eine Stunde.

Warum erst so spät?

Die Schule dauerte bis 13, 14 Uhr. Die meisten haben danach noch Nachhilfeunterricht. Vietnamesische Schulkinder lernen sehr viel. Erst am späten Nachmittag oder abends haben sie Zeit zu spielen.

War das ein Bruch?

Es gab durchaus weniger Zeit zum Spielen. Bei der Einschulung wurde getrommelt und es wurden Volkslieder gesungen. Sehr feierlich. Und es gab Schuluniformen. In der Grundschule trugen wir alle blaue Hosen, weiße Bluse, rotes Halstuch. Die Lehrer in meiner Klasse waren streng. Es gab für uns viel auswendig zu lernen.

Wurde noch geschlagen?

Nein.

Waren Sie in einer Kinderorganisation der Kommunistischen Partei?

Ich war in keiner.

In der Schule wurde nicht mehr so viel gespielt?

Im Unterricht natürlich nicht, aber in der Hofpause konnten wir frei spielen, und zwar die ganze Schule zusammen. Als ich mit 14 nach Deutschland kam, stellte ich fest, dass man sich hier in kleinen Gruppen von vielleicht drei bis fünf Kindern unterhält und zusammen spielt. In Vietnam aber spielte jeder mit jedem. Das habe ich in Deutschland am Anfang sehr vermisst. Auch dass es in Deutschland wenig Aktivitäten gab, an der sich die ganze Schule komplett beteiligen konnte. Stattdessen gab es Arbeitsgruppen für einzelne Leute, die sich für bestimmte Themen interessierten. Andererseits ist es auch gut, dass die Schüler in Deutschland selbstständiger sein sollen und nicht immer nur das wiederholen müssen, was der Lehrer sagt. Ich finde, der Unterricht in Vietnam war theorieorientierter, weniger praktisch.

Waren die deutschen Lehrer weniger streng?

Ja, die meisten waren sehr lieb und haben sich sehr um mich gekümmert. Ich konnte am Anfang kein Wort Deutsch sprechen. Ich hatte nur zwei Monate Deutsch gelernt und bin danach gleich in die achte Klasse gekommen. Das war sehr anstrengend, aber das Abitur habe ich dann trotzdem geschafft.

Sie haben jetzt selbst zwei Kinder, die in Deutschland zur Schule gehen. Was ist Ihr Eindruck?

Ich finde die Schule, in die meine Kinder zurzeit gehen, sehr gut.

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