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Helfen, wenn’s zu spät ist

Mitarbeiter*innen der Jugendämter fordern weniger Fälle pro Fachkraft

  • Marie Frank
  • Lesedauer: 3 Min.

Die trübe Stimmung bei den Berliner Jugendämtern hat sich am Donnerstagmorgen auch auf das Wetter übertragen: Rund 50 Jugendamtsmitarbeiter*innen stehen bei Nieselregen auf dem Alexanderplatz, um für eine Begrenzung der Fallzahlen zu demonstrieren. »Die Regionalen Sozialpädagogischen Dienste der Jugendämter leiden seit Jahren unter massivem Personalmangel und zu großer Arbeitslast«, erklärt Andreas Kraft von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Berlin. »Der Druck auf die Fachkräfte ist angesichts der großen Verantwortung für die zu betreuenden Fälle immens.« Die Folgen seien hohe Krankenstände und eine sehr große Personalfluktuation. »Trotz der untragbaren Situation bleibt die Politik weiter untätig und stiehlt sich aus der Verantwortung«, kritisiert Kraft.

Damit endlich etwas passiert und zumindest die ursprünglich vereinbarte Begrenzung auf maximal 65 Betreuungsfälle pro Fachkraft umgesetzt wird, haben die Gewerkschaften zu einer Demonstration vor dem Sitz der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie aufgerufen. Dass trotz der Dringlichkeit des Themas nur so wenige Demonstrierende gekommen sind, erklärt ein Teilnehmer dann auch mit der Überbelastung der Sozialarbeiter*innen: »Die sind bei ihren Klienten«, glaubt er. Schließlich ist die Arbeit im Regionalen Sozialpädagogischen Dienst (RSD) anspruchsvoll und die Verantwortung immens: Die Fallarbeit umfasst die Überprüfung von Kinderschutzmeldungen, die Einleitung von Maßnahmen zum Schutz von Kindern, Mitwirkung in familiengerichtlichen Verfahren sowie Einleitung und Begleitung von Hilfen zur Erziehung.

Die Gewerkschaft ver.di fordert daher maximal 28 Fälle pro Fachkraft. In Berlin wären sie schon mit dem Doppelten zufrieden. »Ich finde auch 65 Fälle noch zu viel, aber wir wären froh, wenn wir da ankommen würden«, sagt eine Mitarbeiterin vom Jugendamt Wedding. Zurzeit seien es im Schnitt eher 90 Familien, die von einer Person betreut würden, berücksichtige man noch die Einarbeitung neuer Mitarbeiter*innen, die anfangs weniger Fälle bearbeiten, seien es sogar noch weit mehr.

Dabei können sie froh sein, wenn sich überhaupt neue Mitarbeiter*innen finden. »Beim letzten Bewerbungsverfahren ist niemand gekommen, weil sich herumgesprochen hat, wie katastrophal die Situation ist«, erzählt eine Mitarbeiterin vom RSD Mitte. In Marzahn-Hellersdorf hat man ähnliche Erfahrungen gemacht. Anja Schauer vom dortigen Kriseninterventionsteam glaubt daher nicht, dass die Fallzahlbegrenzung noch kommt: »Dafür gibt es doch überhaupt kein Personal«, sagt sie. »Es ist zum Verzweifeln.« Dabei werden mehr Leute dringend gebraucht: »Wir kommen nicht mehr hinterher. Wir können uns nur noch um die Kinderschutzfälle kümmern, die sofort bearbeitet werden müssen«, berichtet eine Kollegin vom Jugendamt Friedrichshain-Kreuzberg. Zeit für Hausbesuche bei den Familien bleibt da kaum, geschweige denn für für präventive Angebote. »Es brennt überall.«

Doch nicht nur die Jugendamtsmitarbeiter*innen leiden unter der Überlastung, die Leidtragenden sind am Ende die Kinder und Jugendlichen, sagt ein Sozialarbeiter eines freien Trägers. »Wir warten ewig, bis mal etwas passiert. Oft reicht es nicht mal für den Kinderschutz.« Dabei müssten die Sozialarbeiter*innen in den Jugendämtern einen verlässlichen Partner haben: »Wir brauchen ein Jugendamt an unserer Seite, dass uns auch in unserer Arbeit unterstützen kann. Dafür braucht es eine Fallzahlbegrenzung«, ist er überzeugt.

Zum Schluss der Demonstration bilden die Sozialarbeiter*innen eine lange Schlange, in der sie die Fallakten symbolisch weitergeben. »Wie im echten Leben, wenn mal einer ausfällt«, meint ein Teilnehmer. Am Ende entsteht dann ein riesiger Stapel mit Fallakten. Auch das wie im echten Leben.

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