Zertifikat für die Lotsen

Hilfe für Leipziger mit Migrationshintergrund, sich im Gesundheitswesen zurechtzufinden

  • Harald Lachmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Aufgeregt wie ein junges Mädchen ist Binnur Demir an diesem Morgen im Leipziger Frauen-Informations- und Begegnungszentrum. Denn sie, die ausgebildete Zahnmedizinerin und Mutter von drei Kindern, wird noch einmal examiniert. Dabei ist eigentlich sie diejenige, die heute andere unterrichten will. Aber diese Informationsrunde zu Fragen von Zahngesundheit, richtiger Ernährung oder Hygiene, die sie leitet, hat es in sich: Denn Binnur Demir ist Türkin, sie lebt erst seit drei Jahren in Leipzig, sprach vorher kein Wort Deutsch - und vor ihr sitzen auch noch Frauen aus Syrien. So wird, was sie auf Deutsch erzählt, zunächst ins Arabische übersetzt. Und all das vor einer Expertenjury, die diese 90 Minuten kritisch beurteilt.

Doch am Ende setzt sich Binnur Demir nicht nur erfolgreich durch - die deutschen Bewerter sind sogar begeistert von ihrer Arbeit. »Super für uns, wenn sie eine Fachkraft ist, die ihr Thema beherrscht«, freut sich Manuela Hübner vom Leipziger Gesundheitsamt. »Da kann man selbst noch etwas dazulernen.«

Und so erhält die Türkin, die aus politischen Gründen ihre Heimat verlassen musste, am Ende eines Kurses mit 15 weiteren Frauen und Männern ihr Zertifikat als Gesundheitslotsin. Neben ihr freuen sich darüber auch Migranten aus anderen Ländern wie Iran, Afghanistan, Venezuela, Vietnam, Libyen, Ägypten, Libanon, Irak und Mexiko. Seit Dezember 2018 veranstalten sie nun eigenständig Informationsveranstaltungen für inzwischen Hunderte Leipziger mit Migrationshintergrund.

Die Plattform hierfür bildet das das Projekt »KuGeL - Kultursensible Gesundheitslotsen Leipzig«. Geschulte Gesundheitslotsen bieten Informationsveranstaltungen zu verschiedenen Themen in verschiedenen Sprachen an. Nicht alle Lotsen seien Geflüchtete, sagt Manuela Hübner. Aber der Anteil ausländischer Mitbürger in Sachsens größter Stadt wachse ständig und umfasse schon Menschen aus 176 Staaten. Inzwischen seien über 14 Prozent der 600 000 Einwohner aus dem Ausland zugereist: rund 84 000. Und für fast alle sei das deutsche Gesundheitswesen Neuland. Bei KuGeL gehe es also nicht darum, Ausländer zum Arzt zu begleiten, sondern ihnen lebenspraktische Pfade durch einen zuweilen schwer durchschaubaren Dschungel zu eröffnen.

Geleitet wird das Projekt vom Gesundheitsamt in Person von Manuela Hübner, koordiniert beim DRK-Kreisverband Leipzig, finanziert für fünf Jahre (2017-2022) durch die Techniker Krankenkasse und ideell unterstützt durch Vereine und Institutionen, die auch Migranten betreuen: Sie helfen, potenzielle Interessenten für die Gesundheitsseminare der Lotsen zu finden. Inhaltlich gliederten sich die Veranstaltungen in elf Themen - vom deutschen Gesundheitswesen bis zu Kindergesundheit, gesundem Umgang mit Medien und Drogen. Selbst auf Kurdisch, Urdu und Punjabi wird informiert. Damit könnten auch Menschen mit teils sehr geringen Deutschkenntnissen »mehr über die vielfältigen Möglichkeiten der Gesundheitsförderung erfahren«, so Manuela Hübner, die für September Schulungen für neue Lotsinnen und Lotsen vorbereitet.

Da jene Lehrgänge auf Deutsch stattfinden, müssen auch angehende Lotsen wenigstens die Qualifikation B2 besitzen. Wünschenswert sind auch medizinische oder pädagogische Vorerfahrungen, »jedoch keine Bedingung«, so die Projektchefin, die ihre Aspiranten etwa in Sprachkursen findet. Daneben bediene man sich Kontakten zu Multiplikatoren: »Hierfür ist eine immense Netzwerkarbeit nötig.« Indes könne die Stadt den Lotsen nicht allzu weit entgegenkommen: Jene 35 Euro pro Informationsveranstaltung entsprächen der untersten Stufe von Tarifen für Volkshochschuldozenten. Dafür müssten sie aber auch nicht - wie andernorts üblich - die Veranstaltungen selbst organisieren und hierbei mögliche Kosten tragen.

Für Binnur Demir und ihre Mitstreiter bildet die Lotsentätigkeit zugleich eine Chance, beruflich in Deutschland Fuß zu fassen. Denn zumeist erkennen hiesige Behörden ein Studium im Herkunftsland nicht an, etwa ihr Diplom als Zahnärztin. Das ändere sich auch nicht durch ihr Wirken als Lotsin, so die türkische Medizinerin, aber es erhöhe ihre Chance, überhaupt in ihrem Metier Arbeit zu finden. »Und als Gesundheitsamt stellen wir allen, von deren Arbeit wir überzeugt sind, hierfür auch Empfehlungen aus«, so Manuela Hübner.

Das Handbuch, das im Zuge dieses Projektes entstanden ist, findet bereits bundesweit Interesse. Immer wieder gehen im Leipziger Gesundheitsamt Anfragen ein, es nachnutzen zu dürfen. »Doch bisher fehlt uns hierfür eine rechtliche Grundlage«, sagt die Projektchefin.

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